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Alexander legte fragend den Kopf schräg, aber Schneider tat so, als bemerke er es nicht. Er tat ihm auch nicht den Gefallen, auf die Mithörtaste zu drücken. »Also gut«, sagte er nach einigen Sekunden. »Unternehmen Sie nichts, aber rufen Sie die Polizei. «

»Warten Sie«, sagte Alexander.

»Einen Moment.« Schneider ließ den Hörer sinken, legte die linke Hand auf die Sprechmuschel und sah Alexander bewußt unfreundlich an. »ja?«

»Wieder dieser Pater?« fragte Alexander in ungewohnt sachlichemTon.

»Jedenfalls behauptet er, einer zu sein«, antwortete Schneider. »Die Polizei soll sich darum kümmern.«

»Nein.« Alexander stand auf, und während er diese kurze Bewegung vollzog, ging eine erstaunliche Veränderung mit ihm vonstatten. Ganz plötzlich war er kein alter, stets freundlich lächelnder Mann mehr. Seine Bewegungen und sein Tonfall strahlten Autorität aus. »Keine Polizei! Ich kümmere mich darum. « Er ließ Schneider keine Gelegenheit zu widersprechen, sondern verließ mit schnellen Schritten das Büro, ohne die Tür hinter sich zu schließen.

Schneider hob den Telefonhörer wieder ans Ohr und stand gleichzeitig auf. »Also gut, keine Polizei«, sagte er. »Aber kommen Sie nach oben, zur Intensivstation. Und … bringen Sie den Pfleger mit, der Bereitschaft hat.«

Aus dem dumpfen, süßlich-warmen Dunstkreis eines Fiebertraumes glitt er hinüber in etwas, von dem er nicht wußte, ob es nun das Wachen war oder nur ein anderer, vielleicht schlimmerer Alpdruck. Wärme umgab ihn, der harzige Geruch von brennendem Holz, der aus irgendeinem ihm selbst nicht ganz verständlichen Grund nicht in das Bild passen wollte, und dunkelrot flackerndes Licht; möglicherweise nur eine Assoziation zu dem Fackelgeruch, vielleicht aber auch real. Er lag auf dem Rücken, und obgleich er viel zu matt war, um sich bewegen zu wollen, hatte er das Gefühl, an Händen und Füßen gebunden zu sein. Aber wer sollte ihn fesseln?

Und warum?

Er versuchte die Augen zu öffnen. Im ersten Moment dachte er, es ginge nicht, dann wurde ihm klar, daß sich seine Lider gehorsam gehoben hatten; er konnte nicht richtig sehen. Der rote Schimmer, der durch seine geschlossenen Lider gedrungen war, war auch jetzt nicht sehr viel heller. Etwas stimmte nicht mit seinen Augen – oder er lag tatsächlich in einem fast völlig dunklen Raum. Irgendwo waren Geräusche: ein samtigwarmes Rascheln, Stoff, vielleicht ein Kleidungsstück, vielleicht eine Decke, die über den Boden geschleift wurde, Stimmen, die in gehetztem Flüsterton sprachen, ohne daß er die Worte verstehen konnte. Es war warm.

Obwohl alles an diesem Traum – und es mußte ein Traum sein, denn hinter der Schwärze, die seine Erinnerungen verschluckt hatte, lauerte noch etwas anderes, etwas Gräßliches und ungemein Schlimmes, an das er sich vielleicht nur nicht erinnerte, weil er es nicht wollte – , obwohl also alles an diesem Traum dazu angetan war, ihn zu ängstigen, erfüllte er ihn zugleich mit einem Gefühl von Beschütztsein und Wärme, vielleicht, weil er die älteste aller Erinnerungen mit sich brachte: eine rote, warme Geborgenheit, in der beruhigende Geräusche und eine schützende Umarmung sich vereinten.

Aber dieses Gefühl mochte täuschen. Da war immer noch das dunkle Etwas hinter seiner Erinnerung, das allmählich Substanz, aber noch keine Form gewann. Etwas war geschehen. Etwas war ihm angetan worden.

Diese Erkenntnis allein – so sehr er sich auch dagegen zu wehren versuchte – reichte aus, ihn ein Stück weiter über die Grenzlinie zwischen Schlaf und Wachen rutschen zu lassen. Geborgenheit und Wärme zogen sich zurück wie die Wellen einer warmen Brandung, und der Strand, der darunter zum Vorschein kam, war voller spitzer Steine und Scherben. Seine Hände und Füße schmerzten, zuerst sacht, dann immer heftiger und schließlich unerträglich, und zugleich gewannen auch die Stimmen weiter an Deutlichkeit. Er konnte die Worte jetzt verstehen

»Früher oder später müssen wir es ohnehin tun. Wir können ihn nicht ewig hier gefangenhalten.«

»Aber es ist zu seinem eigenen Schutz! « »Schutz? Wovor? Das ist lächerlich! « »Vielleicht vor sich selbst.«

–aber sie ergaben keinen Sinn. Trotzdem war etwas Bedrohliches darin. Sie enthielten eine Wahrheit, die er noch nicht verstand, aber deren Bedeutung er bereits zu erahnen begann. Nicht, was geschehen war – oder würde – , aber was es bedeutete. Vielleicht war die Schwärze in seiner Erinnerung nicht etwas, was geschehen war, sondern etwas, das noch kam.

»Er ist wach. Gebt acht, was ihr redet.«

Das schleifende Geräusch wurde lauter. Schritte näherten sich ihm, und dann erschien eine Gestalt in der rötlichen Dämmerung, die seine Welt erfüllte. Im ersten Moment verspürte er Erleichterung, als er das Gesicht als das eines Freundes identifizierte. Aber dann sah er noch einmal hin, und als er den Ausdruck in seinen Augen sah und zu begreifen begann, was er bedeutete, da begann er zu schreien …

Sie hatten aufgehört, Tote zu bringen, aber das machte es nicht besser. Der letzte Wagen war vor einer Stunde gekommen, vielleicht anderthalb – obwohl keine Minute verging, in der er nicht mindestens einmal auf die Uhr sah, hatte er zugleich jedes Zeitgefühl verloren. Sein subjektives Empfinden für das Verstreichen der Zeit schien irgendwie gespalten worden zu sein: auf der einen Seite zählte er die Sekunden bis zum Ende seiner Wache, aber gleichzeitig war es ihm auch nicht möglich zu sagen, was vor einer halben Stunde gewesen war oder vor drei oder vor zehn Minuten. Der Alptraum hatte vor zweiTagen begonnen, und seither hatte Weichsler jede nur vorstellbare Facette des Schreckens und Entsetzens kennengelernt – und eine ganze Reihe bisher für ihn unvorstellbarer dazu.

Dabei war Weichsler alles andere als zart besaitet. Niemand, der in der Sondereinheit Dienst tat, der Weichsler und seine Kameraden angehörten, war das, und bis zu dem Moment vor zwei Tagen, an dem er von der Ladepritsche des Lastwagens gesprungen war und gesehen hatte, was sie wirklich erwartete, war er sogar stolz darauf gewesen. Seither hatte sich eine Menge geändert. Nicht nur Weichslers Einstellung zum Sterben und Tod, sondern auch die zum Leben.

Das Schlimme war noch nicht einmal der Anblick der Toten. Daran hatte er sich tatsächlich gewöhnt, und das schon vor Jahren. Es waren die Säcke. Schwarze, mit einem Kunststoffreißverschluß versehene Säcke aus einem Material, das unangenehm anzufassen war und immer feucht aussah, und es waren die Geräusche. Vor allem sie.

Weichsler zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an – es war verboten, aber niemand scherte sich auch nur einen Dreck darum – und sog den Dunst so tief in die Lungen, daß ihm schwindlig wurde. Der Rauch war zu heiß, und er hinterließ einen fauligen Geschmack auf seiner Zunge. Weichsler verzog angeekelt das Gesicht, aber er widerstand der Versuchung, die Zigarette zu Boden zu werfen und auszutreten. Es lag nicht an der Zigarette. Alles, was er seit zwei Tagen zu sich nahm, schien irgendwie faulig zu schmecken.

Wieder sah er auf die Uhr. Es war anderthalb Minuten später als gerade, als er es das letzte Mal getan hatte – drei Minuten nach vier. Noch zwei Stunden, bis er abgelöst wurde. Drei, bis die Sonne aufging. Weichsler verzog das Gesicht. Wahrscheinlich würde er auch heute nicht schlafen können.

Hinter ihm raschelte etwas. Das heißt: rascheln war nicht die richtige Bezeichnung. Es war eher ein Geräusch, wie es dünne Aluminiumfolie verursachen würde, die man mit der Hand zerknüllte – oder ein schwarzer Leichensack, in dem sich etwas bewegte …

Weichsler unterdrückte den Impuls, auf der Stelle herumzufahren, aber er konnte nicht verhindern, daß sich seine Hand fester um den Lauf der Maschinenpistole schloß, während er sich bewußt langsam umdrehte. EinTeil von ihm wußte ganz genau, daß es eine Erklärung für die Geräusche gab, aber da war noch eine andere, rationalen Argumenten nicht zugängliche Stimme in seinem Kopf, und diese Stimme sagte etwas ganz anderes.