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Das Rascheln hatte aufgehört. Vielleicht war es dagewesen, vielleicht auch nicht – es spielte keine Rolle. Für einen Moment sah er überall huschende Schatten, Reißverschlüsse, die von innen aufgezogen wurden, verkrümmte Hände mit blaugrauer, ausgetrockneter Haut, die sich mit abgehackten Bewegungen aus den schwarzen Kunststoffbeuteln herausarbeiteten und

»Schluß! «

Der Klang seiner eigenen Stimme erschien ihm fremd, und das Echo, das sie in der großen, kaum beleuchteten Turnhalle hervorrief, wirkte irgendwie bedrohlich; als wären es nicht nur seine eigenen Worte, die zurückkehrten, sondern als hätten sie … etwas mitgebracht. Trotzdem beruhigte es ihn. Er war lange genug daran gewöhnt, Befehlen zu gehorchen – sogar, wenn sie von ihm selber kamen. Weichsler nahm einen weiteren Zug aus seiner Zigarette, blies den faulig schmeckenden Qualm so weit von sich, wie er konnte, und trat die Zigarette schließlich doch aus, bevor er mit langsamen Schritten zwischen den in schnurgeraden Reihen aufgestellten Feldbetten entlang zu gehen begann. Es waren sehr viele Feldbetten, in sehr vielen Reihen. Weichsler wußte nicht, wie viele genau: Am erstenTag hatte er sie gezählt, und da waren es dreihundert gewesen, aber danach hatte er damit aufgehört. Vielleicht waren es jetzt schon fünfhundert, vielleicht auch mehr – es spielte keine Rolle. Es waren auf jeden Fall zu viele. Wieder hörte er ein Geräusch, aber diesmal war es nicht das eingebildete Kratzen einer Zombiehand, die sich aus ihrem Plastikkokon zu befreien versuchte, sondern ein Laut, den er vielleicht noch mehr fürchtete. Draußen fuhr ein Lastwagen vor, Türen wurden geschlagen, dann das typische Klappern, mit dem die Ladeklappe heruntergelassen wurde. Er hatte zu früh aufgeatmet. Es war noch nicht vorbei. Sie brachten wieder Tote. Weichsler verzog erneut das Gesicht, machte auf der Stelle kehrt und ging zur Tür. Er hatte sich kaum in Bewegung gesetzt, als sie von außen geöffnet wurde, und für einen Moment blendete ihn grellweißes Licht. Die Scheinwerfer des Lastwagens waren genau auf die Tür gerichtet. Weichsler ging schneller, erreichte die Tür und betätigte den Lichtschalter, ehe er sich dem Schatten zuwandte, der in dem hell erleuchteten Rahmen aufgetaucht war. Der Soldat in ihm war offensichtlich stärker als der total verunsicherte Mensch, denn er erkannte erst die Rangabzeichen und dann das Gesicht seines Gegenübers: Oberleut nant Nehrig. Ausgerechnet. Von allen Offizieren der Einheit mochte Wechsler ihn am allerwenigsten. Und daß dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte, machte es auch nicht unbedingt besser. Nehrig brauchte offensichtlich eine Sekunde, um sich zu orientieren, denn zunächst blinzelte er irritiert in das weiße Neonlicht, das Reihe um Reihe unter der Decke derTurnhalle aufflackerte. Dann nickte er Weichsler zu, salutierte nachlässig und gab mit dem zweiten Teil derselben Bewegung jemandem draußen auf dem Schulhof einen Wink. Erst dann trat er endgültig ein. »Leutnant Weichsler. Alles in Ordnung?« Was soll wohl nicht in Ordnung sein? dachte Weichsler verärgert. Glaubst du, sie stehen auf und laufen davon, wenn ich nicht hinsehe? Natürlich sprach er das nicht aus – wenn auch im Grunde weniger aus Respekt vor seinen Vorgesetzten, sondern vielmehr, weil der Gedanke etwas in ihm berührt und geweckt hatte, das ihn über die Maßen erschrecken würde, wenn er den Fehler beging, es laut auszusprechen. So nickte er nur ebenso knapp wie Nehrig gerade und sagte: »Melde: Alles in Ordnung, Herr Oberleutnant. « Aus irgendeinem Grund schien Nehrig diese förmliche Meldung zu verblüffen. Einen kurzen Moment lang sah er Weichsler beinahe konsterniert an, dann tat er etwas für ihn höchst Seltenes: er lächelte. »Okay, vergessen wir die Förmlichkeiten«, sagte er. »Gab's irgend etwas?« »Nein.« Weichsler schüttelte den Kopf. »Alles ruhig.« »Und mörderisch langweilig, nehme ich an«, fügte Nehrig hinzu. »Wir bringen Ihnen noch ein paar Gäste. Sie haben doch noch Betten frei?« »Zwei oder drei.« Weichsler machte eine Handbewegung über die Schulter zurück. »In der letzten Reihe.« »Das reicht.« Nehrig wiederholte seine Geste nach draußen. »Bringt sie rein.« Weichsler trat einen Schritt zur Seite, um den beiden Soldaten Platz zu machen, die Nehrigs Befehl folgten und einen weiteren schwarzen Kunststoffsack hereinschleppten. Den beiden folgten zwei weitere Männer, die einen offenbar sehr viel leichteren Sack trugen; eine sehr schlanke Frau, vermutete Weichsler, vielleicht ein Kind.

»Ganz hinten«, sagte Nehrig. »Letzte Reihe.«

Während sich die vier Soldaten mit ihrer schrecklichen Last weiterbewegten, starrte Nehrig einige Sekunden lang mit gerunzelter Stirn auf die Stelle neben der Tür, an der Weichsler die letzten Stunden gestanden und eine ihm unbekannte Anzahl von Toten bewacht hatte. Auf dem grüngestrichenen Betonboden lagen ungefähr fünfzehn ausgetretene Zigarettenstummel. Wahrscheinlich, dachte Weichsler, suchte er in Gedanken nach einer entsprechenden Formulierung, um ihn wegen dieses Verstoßes gegen die Dienstvorschrift zu rügen.

Weichsler erlebte binnen kurzem eine zweite Überraschung: Statt ihn anzublaffen, zog Nehrig plötzlich selbst eine Packung West aus der Jackentasche und hielt sie ihm hin. Weichsler griff schon aus reiner Verblüffung zu und beugte sich ein wenig vor, als Nehrig ihm Feuer gab. Seine MPi schlug mit einem leisen Klappern gegen denTürrahmen. Nehrig sah ganz automatisch hin und runzelte mißbilligend die Stirn. Weichslers Waffe hing griffbereit an seiner Seite, statt über der Schulter. Aber er sagte auch dazu nichts. Weichsler schulterte seine Waffe mit einer Bewegung, die eine Winzigkeit zu hastig ausfiel, während Nehrig sich selbst Feuer nahm und den Rauch mit sichtbarem Genuß in die Lungen sog. Weichsler empfand ein flüchtiges Aufwallen von vollkommen absurdem Neid. Seine Zigarette schmeckte immer noch irgendwie faulig.

»Seit wann sind Sie hier?« fragte Nehrig. Er sah Weichsler dabei nicht an, sondern verfolgte scheinbar konzentriert die vier Soldaten, die die beiden Leichensäcke zum anderen Ende derTurnhalle trugen.

»Heute nacht?« Weichsler sah vollkommen überflüssig auf die Uhr. »Seit Mitternacht.«

»Geisterstunde, wie?« Nehrig grinste. Weichsler fand die Bemerkung ganz und gar nicht komisch, und offenbar sah man es ihm an, denn Nehrigs Grinsen verschwand schlagartig, als er

sich ihm zuwandte. »Scheiß-Job, was?«

»Es geht«, antwortete Weichsler ausweichend.

»Draußen ist es schlimmer«, pflichtete ihm Nehrig bei, und obwohl Weichsler zustimmend nickte, wußte er doch, daß das nicht stimmte. Vor zweiTagen war er froh gewesen, hierher zum Wachdienst abkommandiert worden zu sein statt zu einer der Einheiten, welche die umliegenden Ortschaften nach Leichen absuchten; aber mittlerweile war viel Zeit vergangen. Zeit zum Nachdenken, Zeit, die er zusammen mit diesen schweigenden Toten in einer Turnhalle oder zusammen mit seinen Alpträumen in einem zum Schlafsaal umfunktionierten Klassenraum verbracht hatte. Entschieden zu viel Zeit. Vermutlich war es eine grauenhafte Aufgabe, die umliegenden Ortschaften Haus für Haus, Etage um Etage und Zimmer um Zimmer nach weiteren Toten zu durchkämmen. Aber die Männer dort draußen hatten wenigstens was zu tun, und Weichsler war an einem Punkt, an dem ihm alles besser erschien, als in dieser kalten, zugigen Halle zu stehen und darauf zu warten, daß es Tag wurde. Die Toten waren nicht stumm. Sie machten Geräusche, und wenn er noch einen oder zwei weitere Tage hier verbrachte, würde er vermutlich anfangen, ihre Stimmen zu hören.

»Die beiden da waren die letzten«, sagte Nehrig nach einer Weile. »Ich glaube nicht, daß wir noch mehr finden. Gott sei Dank wirkt dieses Scheiß-Zeug nicht allzu lange.«

»Wie viele sind es?« fragte Weichsler. Er erschrak fast. Warum stellte er diese Frage? Er wollte es nicht wissen! Trotzdem nickte er, als Nehrig die Zigarette aus dem Mundwinkel nahm und ihn fragend ansah:

»Insgesamt? Eintausendzweihundertsiebzehn – mit den beiden da.«

»Großer Gott!« flüsterte Weichsler. Er hatte gewußt, daß die wirklichen Zahlen von denen abwichen, die die Medien verbreiteten, aber das …