Выбрать главу

Er war leer und so dunkel, daß Brenner im ersten Moment glaubte, in einen finsterenTunnel geraten zu sein, ehe ihm klar wurde, daß ihm seine Augen erneut einen Streich spielten. Offensichtlich brannte nur die Nachtbeleuchtung: Vor ihm war nichts als Schwärze, in der ein halbes Dutzend zerfaserter Lichtinseln schwammen. Brenner zögerte ein paar Sekunden. Wahrscheinlich wäre es klüger, nicht weiter zu gehen. Ganz davon abgesehen, daß ihn seine auf so wundersame Weise zurückgekehrten Kräfte auch ebenso plötzlich wieder verlassen konnten, lief er ernsthaft Gefahr, sich zu verletzen, wenn er gegen ein Hindernis lief. Die plötzlichen Fortschritte, die seine Genesung machte, verführten ihn dazu, sich zu überschätzen.

Aber er war nicht in der Stimmung, vernünftig zu sein. Brenner lauschte. Für ein Krankenhaus erschien es ihm hier fast zu still, selbst in Anbetracht der frühen Morgenstunde. Alles, was er hörte, waren seine eigenen Atemzüge und leise Stimmen, deren blecherner Klang ihm verriet, daß sie aus einem Radio stammten; einem jener Radios, die hier nicht erlaubt waren, vermutete er. Brenner ließ die Türklinke los, überlegte noch einen Moment und wandte sich dann nach links. Einer der Lichtflecke war ein wenig größer als die anderen das Bereitschaftszimmer, in dem die Nachtschwester Wache hielt. Außerdem kamen die Stimmen von dort.

Vorsichtig tastete er sich darauf zu, wobei er die linke Hand mit gespreizten Fingern an der Wand entlangschleifen ließ und die rechte ein wenig vorstreckte, um nicht unversehens gegen ein Hindernis zu laufen. Trotzdem wäre er beinahe gestürzt. Seine Hand griff plötzlich ins Leere, und er machte einen ungeschickten Ausfallschritt nach links, um sein Gleichgewicht wiederzufinden, wodurch er vollends in das Zimmer hineintrat, dessen Tür so unerwartet offen stand. Sein Fuß stieß gegen ein Hindernis, das mit einem lautstarken Scheppern davonrollte. Brenner setzte automatisch zu einer Entschuldigung an, aber noch bevor er das erste Wort aussprechen konnte, begriff er, daß es nichts zu entschuldigen gab. Das Zimmer war leer. Er konnte zwar außer dem hellen Rechteck des Fensters und einiger verschwommener Umrisse nichts erkennen, aber in den letztenTagen war sein Gehör sehr viel schärfer geworden, und vor ihm rührte sich nichts. Er hatte niemanden gestört, weil er in ein leerstehendes Zimmer gestolpert war.

Brenner tastete sich wieder auf den Flur hinaus und war diesmal aufmerksamer. Auch die nächste Tür stand offen, und diesmal spürte er schon, bevor er es betrat, daß das dahinterliegende Zimmer leer war. Das dritte danach übrigens auch. Das Krankenhaus war ganz offensichtlich nicht besonders gut belegt. Aus einem ihm selbst im ersten Moment nicht ganz verständlichen Grund beunruhigte ihn dieser Gedanke.

Er ging weiter und sparte es sich, auch die beiden übrigen Zimmer auf dieser Seite des Korridors zu inspizieren. Die Radiostimmen wurden lauter, und er sah jetzt ein bläuliches Flackern, das sich in das verwaschene Weiß der Lichtinsel vor ihm mischte. Ein Fernseher. Hatte die Schwester nicht behauptet, daß Fernsehempfänger in dieser Klinik nicht erlaubt seien? »Hallo?«

Seine eigene Stimme erschreckte ihn. Sie klang hier draußen vollkommen anders als drinnen in seinem Zimmer. Wie in einem vollkommen leeren Korridor? Vielleicht einem, der zu einem vollkommen leeren Krankenhaus gehörte?

Unsinn!

Um sich selbst zu beweisen, daß er einfach nur hysterisch war, rief er noch einmal und dann noch ein drittes Mal, aber er bekam keine Antwort. Wenn der helle Bereich hinter der Glasscheibe, die seine tastenden Finger berührten, tatsächlich das Schwesternzimmer war, dann war es leer.

Für einen Moment bewegten sich graue Nebelschwaden vor seinen Augen, und für einen noch kürzeren Moment flackerte Furcht in ihm hoch. Bevor sie sich zu einer ausgewachsenen Panik entwickeln konnte, trieben die Nebelfetzen jedoch schon wieder auseinander, und er konnte nicht nur ebenso gut, sondern weitaus besser sehen als noch vor einer Sekunde. Offensichtlich kehrte sein Sehvermögen nicht nur allmählich, sondern auch in Schüben zurück.

Es war das Schwesternzimmer. Hinter der Glassche ibe stand ein Schreibtisch, der bis auf einen tragbaren Fernseher, eine Kaffeetasse nebst der dazugehörigen Thermoskanne und einen überquellenden Aschenbecher so leer war, daß es schwerfiel, sich vorzustellen, daß jemals jemand daran gearbeitet hatte. Die Nachtschwester war nicht da. Die Stimmen, die er gehört hatte, kamen aus dem Fernseher.

Brenner spielte einen Moment lang mit dem Gedanken, seine Erkundung fortzusetzen – ein rascher Blick über die Schulter zurück zeigte ihm nicht nur, daß er den Korridor jetzt fast bis zum anderen Ende erkennen konnte, sondern auch, daß seine Befürchtungen übertrieben gewesen waren. Es gab absolut nichts, worüber er hätte stolpern können. Der Korridor war so leer, wie man es von einem Krankenhausflur erwarten sollte, aber selten sah; keine Krankenbetten, keine Rollstühle, gar nichts. Auf der anderen Seite endete der Gang nach wenigen Schritten vor eine zweiflügeligen Milchglastür, auf der in Spiegelschrift: INTENSIVSTATION, ZUTRITT NUR FOR KRANKENHAUSPERSONAL zu lesen war.

Vermutlich war es keine gute Idee, weiterzugehen. Er war wohl gut beraten, wenn er den Bogen nicht überspannte. Aber er ging auch nicht in sein Zimmer zurück, sondern betrat nach kurzem Zögern den Bereitschaftsraum und ging um den Schreibtisch herum, um einen Blick auf den Fernsehschirm zu werfen.

Es war eine Enttäuschung, jedenfalls zuerst. Er konnte zwar jetzt besser sehen, aber auf dem Dreißig-Zentimeter-Monitor erkannte er trotzdem nichts als flimmernden Schnee, in dem sich formlose Schemen bewegten. Brenner wollte sich schon enttäuscht abwenden, aber dann erregte doch etwas daran seine Aufmerksamkeit. Nicht das Bild, das er sowieso nicht sehen konnte, aber das, was der ebenfalls unsichtbare Kommentator dazu sagte.

» … die Anzahl der Opfer mittlerweile auf dreihundertundzwölf angestiegen. Jedenfalls ist das die Zahl, die von offiziellen Stellen angegeben wird. Inoffizielle Stimmen reden jedoch von einer weitaus höheren Anzahl von Todesopfern und Vermißten. «

Dreihundert Todesopfer? Wie es schien, war das Leben draußen in der Welt in den dreiTagen, die er hier war, nicht stehengeblieben, für einige aber ziemlich abrupt zu Ende gegangen. Brenner war alles andere als ein sensationslüsterner Mensch; er verabscheute es normalerweise, sich am Unglück anderer zu ergötzen. Aber nach dreiTagen Einzelhaft, in der die Alpträume und seine Blindheit die einzige Abwechslung gewesen waren, war er regelrecht ausgehungert nach Neuigkeiten.

»Das gesamte Gebiet ist weiterhin weitläufig abgesperrt, so daß wir Ihnen leider immer noch keine Bilder vom Schauplatz der Katastrophe bieten können«, fuhr die Stimme aus dem Fernseher fort. »Wir sind jedoch mit einem Kamerateam vor Ort gewesen und haben versucht, einige Originaltöne von Mitgliedern der Rettungsmannschaften einzufangen, die heute morgen aus dem Sperrgebiet gekommen sind. «

Was mochte geschehen sein? dachte Brenner. Ein Flugzeugabsturz? Er war ein wenig beunruhigt. Er konnte immer noch nichts sehen, aber allein der Tenor der Worte, die er hörte, weckte in ihm den Verdacht, daß es sich diesmal nicht um einen Chemieunfall in Bangladesch oder an irgendeinem anderen weit entfernten Ende der Welt zu handeln schien, sondern um etwas, das näher lag. Er beugte sich weiter vor, blinzelte angestrengt

– und die flimmernden weißen und schwarzen Punkte auf dem Fernsehschirm gerannen zu einem Bild. Es war zu blaß und hatte zum Ausgleich dazu viel zu starke Konturen, was es zugleich unnatürlich wie auch sonderbar plastisch erscheinen ließ, aber es war eindeutig ein Bild, das er sehen konnte und das ihm etwas sagte.

Zum Beispiel, daß er denTenor der Nachrichten ganz richtig gedeutet hatte. Diesmal waren es nicht irgendwelche armen Hunde in Mexiko oder den Hochanden gewesen, die es erwischt hatte. Was er auf dem Monitor erkannte, das war ein Durcheinander von Menschen, Autos und Gebäuden, das im allerersten Moment aus reiner Bewegung zu bestehen schien, die sich weigerte, Form anzunehmen. Aber er sah sofort, daß die Aufnahme nicht via Satellit von den Kaiman-Inseln kam, sondern aus einer Entfernung von allerhöchstens wenigen hundert Kilometern, und möglicherweise nicht einmal das. Die Autos hatten deutsche Kennzeichen. Die Menschen wenigstens die meisten – waren so gekleidet wie die, die er vor ein paarTagen noch getroffen hatte, und die Stimmen, die er hörte, sprachen kein Kauderwelsch, sondern Hochdeutsch und Hessisch. Was immer passiert war, es war hier passiert. Kein Wunder, dachte er, daß die Journalisten den Sturm auf sein Krankenzimmer abgeblasen hatten. Sie hatten etwas viel Besseres als einen Mann, der einenTreppensturz überlebt hatte.