Es waren nur noch Fetzen. Hose und Jacke waren zerrissen und so verdreckt, daß ihr ursprüngliche Farbe kaum noch zu erkennen war, und in der Jacke – und auch dem Hemd, dessen angesengter Kragen darunter zum Vorschein kam – klaffte ein gewaltiges Loch mit verbrannten Rändern, wo ihn das MG-Geschoß gestreift hatte. Es war schwer vorstellbar, daß jemand, der in diesen Kleidern gesteckt hatte, noch am Leben sein sollte. Und noch schwerer vorstellbar, daß er dieser Jemand sein sollte. Außerdem gab es einen weiteren, beunruhigenden Aspekt an diesem Anblick: Er schien das, woran er sich erinnerte – nein, verdammt. zu erinnern glaubte! – , zu bestätigen.
Seine Hände begannen stärker zu zittern. Noch vor einer Sekunde hatte er geglaubt, die Ungewißheit nicht ertragen zu können. Jetzt war er nicht mehr sicher, ob er die Gewißheit ertragen konnte. Warum nicht wieder ins Bett gehen, die Augen schließen und darauf hoffen, sich nur an einen weiteren, völlig abgedrehtenTraum zu erinnern, wenn er sie wieder aufmachte; wenn er wirklich verrückt war, spielte es letztendlich keine Rolle, ob er den Beweis dafür eine Stunde früher oder später bekam.
Aber er konnte auch genausogut seine Brieftasche herausnehmen und nach diesem Beweis suchen.
Sie befand sich in einem kaum besseren Zustand als der Rest seiner Kleidung. Das Leder war angesengt und offenbar naß geworden, denn es fühlte sich brüchig und stumpf an, und ihr Inhalt war zum Großteil zu einer formlosen grauen Masse zusammengepappt. Der einzig relativ unbeschadete Teil war der blanke Hohn: die goldene Eurocard, die die ganze Katastrophe letztendlich ausgelöst hatte. Wer hatte je behauptet, daß das Schicksal keinen Sinn für Humor hätte? Es hatte einen, aber er war ziemlich schwarz.
Brenner biß die Zähne zusammen und versuchte die aufgeklappte Brieftasche mit der rechten Hand zu halten, ohne die Nadel dabei noch tiefer in sein Fleisch zu treiben, während er mit der linken die zusammengeklebten Papiere auseinanderzog. Nichts davon war noch zu gebrauchen, aber den Verlust würdeer verschmerzen. einige Quittungen, ein paar Notizzettel, eine Tankquittung …
… und beinahe als letztes den abgelaufenen Parkschein, auf dessen Rückseite er die Telefonnummer von Astrids Eltern notiert hatte.
Er war ebenso aufgeweicht wie alles andere, was sich in seiner Brieftasche befunden hatte, aber es gab einen Unterschied. Die Feuchtigkeit hatte weder vor Tinte noch vor Kugelschreiber, Bleistift oder Druckerschwärze Halt gemacht und alles Geschriebene zu einem einzigen Brei verwischt. Nur die mit vor Kälte krakeliger Schrift hingekritzelte Telefonnummer war so deutlich zu lesen, als wäre sie vor einer Minute geschrieben worden. Sie war weder verlaufen noch unleserlich, sondern schien ihn höhnisch anzugrinsen.
Brenner starrte die zehnstellige Ziffernkombination an, und er wußte, was geschehen würde, aber er konnte nichts dagegen tun. In seinem Kopf begann sich etwas zu drehen, und nur einen Moment später kippte das Zimmer vor seinen Augen zuerst nach rechts, dann sehr viel weiter nach links und erlosch schließlich. Letztendlich hatte das Schicksal wohl doch noch eine Spur von Mitleid und ließ ihn in Ohnmacht fallen.
Beinahe wäre er ein Opfer seiner eigenen Vorsicht geworden. Etwas stimmte in diesem Krankenhaus nicht, und man mußte kein gesuchter Berufsterrorist sein, um das zu begreifen. Schon auf dem Weg nach oben war ihm die Stille aufgefallen. Krankenhäuser – zumal morgens um vier – gehörten zwar nicht unbedingt zu den Orten, an denen es lautstark wie auf dem Fischmarkt zuging, aber zumindest hier in der dritten Etage, in die er dem Eindringling gefolgt war, war es einfach zu still.
Salid hörte absolut nichts. Der Eindringling – es war ein relativ junger, hellhäutiger Mann mit kurzgeschnittenem blondem Haar und für die Witterung viel zu dünner Kleidung hatte darauf verzichtet, den Aufzug zu benutzen, sondern war die Treppe hinaufgegangen. Um sich nicht zu verraten, hatte Salid ihm einen gewissen Vorsprung gelassen – und wäre um
Haaresbreite selbst entdeckt worden. Es war das alte Spiel vom verfolgten Verfolger, aber die Schraube hatte sich heute noch einmal weitergedreht: Während der Fremde offenbar dem Pförtner folgte – möglicherweise nur, um von ihm nicht entdeckt zu werden – , folgte Salid ihm und begriff fast zu spät, daß es noch eine weitere Partei in diesem Spiel gab. Er hatte die Tür des Treppenhauses kaum geschlossen, als er Schritte hinter sich hörte und einen Schatten hinter dem geriffelten Milchglas sah. Hastig wandte er sich nach rechts, huschte ein paar Stufen weit die Treppe hinunter und preßte sich mit angehaltenem Atem gegen die Wand.
Praktisch im gleichen Augenblick wurde die Tür geöffnet, und zwei Gestalten betraten das Treppenhaus. In dem blassen Schein, der vom Korridor hereinfiel, erkannte Salid, daß sie weiße Hosen und helle, kurzärmelige Jacken trugen. Ärzte oder Pfleger, auf jeden Fall Krankenhausangestellte, die, aus welchem Grund auch immer, beschlossen hatten, die Treppe zu nehmen statt den viel bequemeren Aufzug gleich nebenan.
Salid fluchte lautlos in sich hinein. Sobald sie das Licht einschalteten, mußten sie ihn einfach sehen, und dann hatte er ein Problem. Er zweifelte nicht daran, daß er nur Sekunden brauchen würde, um sie zu überwältigen – aber damit war es nicht getan. Er würde sie töten müssen, um ganz sicher zu gehen, daß sie ihn nicht verrieten, und das war sein Problem. Er war nicht sicher, ob er es noch konnte. Sein Herz begann schneller zu klopfen, während er sich instinktiv spannte und aus weit aufgerissenen Augen die beiden schwarzen Umrisse in der Dunkelheit zwei Meter über sich musterte.
Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Die Männer machten kein Licht. Einer von ihnen schob die Tür sehr leise ins Schloß, während der andere reglos und mit schräggehaltenem Kopf dastand und nach oben lauschte. Sie benutzten die Treppe nicht aus Gesundheitsbewußtsein oder um nicht auf den Lift warten zu müssen, sondern aus dem gleichen Grund wie er.
Salids Erleichterung hielt jedoch nur eine Sekunde vor, ehe er begriff, daß er überhaupt keinen Grund dazu hatte. Er war offensichtlich nicht der einzige, der mitbekommen hatte, daß es einen ungebetenen Gast in dieser Klinik gab – aber wer sagte ihm eigentlich, daß sie den anderen suchten und nicht ihn? Sie waren praktisch beide gleichzeitig in das Gebäude eingedrungen; woher nahm er die Überzeugung, daß der andere entdeckt worden war und nicht er oder gar beide? Möglicherweise war der hinkende Pförtner auch nicht leichtsinnig gewesen, sondern hatte ganz gena u gewußt, was er tat, und ihnen eine Falle gestellt, in die sie blind hineingetappt waren.
Salids Professionalität hinderte ihn daran, kostbare Zeit damit zu verschwenden, indem er sich über dieseTatsache ärgerte. Vorerst würde es reichen, seiner Gewohnheit zu folgen und die schlimmstmögliche Alternative zugleich auch als die wahrscheinlichste anzunehmen, solange das Gegenteil nicht bewiesen war. Trotzdem legte er die Erkenntnis, daß er offensichtlich begann, nachlässig zu werden, sorgsam in seinem Gedächtnis ab, um zu einem späteren Zeitpunkt darüber nachzudenken.
Die beiden Pfleger eilten mit den sicheren Schritten von Männern die Treppe hinauf, die ihre Umgebung gut genug kannten, um kein Licht zu benötigen. Sie sprachen kein Wort, aber Salid hörte, daß sie einen Moment zögerten, ehe sie dieTür eine Etage höher öffneten, und es auch dann nur sehr behutsam taten. Sie waren auf der Jagd.
Salid wartete, bis die Tür über ihm wieder ins Schloß gefallen war, ließ eine weitere Sekunde verstreichen und huschte dann schnell und fast lautlos die Treppe hinauf. Sein Pulsschlag hatte sich wieder beruhigt. Was immer an jenem Morgen im Wald mit ihm geschehen war, hatte ihn vielleicht grundlegend verändert, ihn aber nicht seiner alten Instinkte und Reflexe beraubt. Als er die Tür im nächsten Stockwerk erreichte und das Ohr gegen das kalte Glas preßte, um zu lauschen, war er wenig mehr als eine Kampfmaschine. Hätte in diesem Moment jemand dieTür von der anderen Seite geöffnet, hätte diese Begegnung mit ziemlicher Sicherheit tödlich für ihn geendet.