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Aber er hörte nichts. Obwohl die beiden Männer einen Vorsprung von allerhöchstens zehn Sekunden hatten, waren ihre Schritte nicht mehr zu orten. Sie bewegten sich entweder sehr schnell oder sehr leise.

Salid drückte die Klinke herunter, preßte die linke Handfläche mit großer Kraft gegen das Glas, um jedes Geräusch zu unterdrücken, und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Der Korridor, der dahinter lag, war ebenso leer wie der ein Stockwerk tiefer, aber hell erleuchtet. Die beiden Männer waren nicht mehr zu sehen, doch als Salid die Tür ganz öffnete und hindurchtrat, wußte er sofort, wohin sie verschwunden waren: Nur ein paar Schritte weiter machte der Flur auf der linken Seite einen scharfen Knick, während er sich zur Rechten sicherlich zwanzig oder fünfundzwanzig Meter weit dahinzog. Salid wandte sich nach links, ging mit schnellen Schritten bis zur Ecke

»Sie da! Bleiben Sie stehen! «

Salid fuhr mit einer blitzartigen Bewegung herum und hob die Arme. Seine linke Hand deckte die Kehle, während die andere weiter erhoben und zu einer Kralle geöffnet war, um in Augen, Kehlkopf oder Weichteile zu stoßen. Aber hinter ihm war niemand. Die Stimme war aus der anderen Richtung gekommen. Verdammt! Er war sehr viel angespannter, als er sich selbst gegenüber eingestehen wollte. Eine weitere, nicht zu unterschätzende Möglichkeit, Fehler zu begehen …

»Bleiben Sie stehen! Das hat doch keinen Zweck! « DerTon dieser Worte war schon schärfer, und gleichzeitig hörte er trappelnde Schritte und dann etwas, das wie ein Kampf klang; oder auch ein kurzes Gerangel. Salid spähte vorsichtig um die Ecke. Was er sah, das war so grotesk, daß er beinahe laut aufgelacht hätte. Der junge Mann, dem er gefolgt war, rannte wie ein aufgescheuchtes Huhn von rechts nach links und wieder zurück über den Krankenhausflur, verfolgt von einem humpelnden Greis in einem grauen Hausmeisterkittel, der vergeblich versuchte, ihn am Jackenärmel zu erwischen.

Trotzdem war seine Flucht ziemlich aussichtslos – nach hinten endete der Gang nach wenigen Schritten vor einer geschlossenen Doppeltür aus Drahtglas, und die andere Richtung blockierten die beiden Pfleger, die Salid beinahe überrascht hätten. Ganz offensichtlich fanden sie Gefallen an der Szene; denn sie machten keine Anstalten, dem Mann im blauen Kittel bei seiner Verfolgungsjagd zu helfen.

»Jetzt bleiben Sie doch endlich stehen. Das hat doch keinen Sinn mehr! « keuchte der Hausmeister. Er bewegte sich zwar nicht wesentlich schneller als ein durchschnittlicher Fußgänger, keuchte aber, als hätte er einen Hundert-Meter-Sprint hinter sich, und seine Wangen hatten eine hektische rote Färbung angenommen. »Verdammt, wollen Sie, daß ich … daß ich einen Herzinfarkt bekomme?«

So absurd Salid diese Frage vorkam, der Eindringling blieb tatsächlich stehen und sah den schweratmenden Alten erschrocken an. Aber er wich hastig einen weiteren Schritt zurück, als der Hausmeister wieder näher kam. Sein Blick flackerte, und Salid sah, daß sich seine Finger hektisch bewegten. Er drehte mit kleinen, ruckartigen Bewegungen den Kopf hin und her und machte erneut einen Schritt nach hinten, bis er mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Er war eindeutig in Panik.

Salid fragte sich nur, warum. Er konnte ihn jetzt zum erstenmal richtig erkennen, und ein einziger Blick reichte, um ihm klarzumachen, daß er hier ganz gewiß keinen Einbrecher vor sich hatte. Es sei denn, Einbrecher trugen in diesem Land neuerdings Priesterkragen.

Die Glastür wurde aufgerissen, und ein Mann in einem weißen Arztkittel stürmte heraus. Er hatte schütteres Haar und trug eine elegante dünne Goldbrille, aber sein Gesichtsausdruck paßte nicht zu seinem äußeren Erscheinungsbild. Er sah auf eine Weise aufgebracht aus, die man bei einem Mann wie ihm nicht vermutete, und seine Stimme klang entsprechend.

»Was ist hier los?« fragte er herrisch. »Was soll dieser Lärm? Wir sind hier in einem Krankenhaus, nicht auf dem Bahnhof! « Sein Blick glitt auf eine schon fast berufsmäßig herablassende Weise über die Gesichter der beiden Pfleger und des Hausmeisters und konzentrierte sich dann auf den Mann im Priesterkragen. Über seinem Brillengestell erschienen drei tief eingegrabene, parallel verlaufende Falten, die ihm mit einem Male das Aussehen eines mißgelaunten Dackels gaben.

»Sie sind ziemlich hartnäckig, wie?« fragte er.

»Ich habe Ihnen gesagt«, begann der andere, »daß – «

»Und ich habe Ihnen gesagt«, unterbrach ihn der Arzt zornig, »daß ich Sie hier nicht mehr sehen will. Ich dachte, ich hätte mich deutlich genug ausgedrückt. Was Sie hier tun, ist illegal. Man könnte es als Einbruch auslegen. Zumindest aber als Hausfriedensbruch.«

»Soll ich die Polizei rufen?« erkundigte sich der Pförtner. Der Arzt tat so, als müsse er einen Moment über die Antwort nachdenken, aber Salid las in seinen Augen, daß er diese Frage längst entschieden hatte. »Nein«, sagte er. »Wenigstens noch nicht. Sie können wieder auf Ihren Posten gehen.«

Er wartete ganz genau ab, bis sich der Pförtner herumgedreht und einen Schritt in Salids Richtung getan hatte, dann fügte er mit leiser, aber eisiger Stimme hinzu: »Und ich wäre Ihnen äußerst verbunden, wenn Sie Ihre Arbeit in Zukunft etwas gewissenhafter verrichten würden. Offensichtlich kann hier in letzter Zeit jeder hinein-und herausspazieren, wie es ihm gerade gefällt. «

Der Pförtner zog den Kopf zwischen die Schultern und war klug genug, nichts mehr zu sagen, und Salid wich hastig wieder ins Treppenhaus zurück. Lautlos huschte er zwei Stufen nach oben und wartete. Er war sicher, daß der Mann diesmal nicht dieTreppe benutzen würde. Er war körperbehindert; kein Krüppel, aber doch jemand, dem Treppensteigen gewiß Mühe bereitete.

Seine Rechnung ging auf. Nach ein paar Sekunden schlurfte ein gebückter Schatten an der Milchglasscheibe vorbei, und kurz darauf hörte er das Geräusch der Aufzugtüren. Salid kehrte wieder in den Korridor zurück, wandte sich jedoch nicht sofort nach links, sondern sah sich rasch und mit geschultem Blick um.

Er war in genug Krankenhäusern auf der ganzen Welt gewesen, und irgendwie glichen sie sich alle, so daß er fast auf Anhieb fand, wonach er suchte. Lautlos huschte er über den Flur, öffnete die Tür zur Wäschekammer und schlüpfte hindurch, ohne Licht zu machen.

Diesmal hatte er Pech. In den Regalen stapelten sich bis unter die Decke Handtücher, Bettwäsche und Wolldecken, aber keine Kittel. Nach kurzem Suchen entdeckte er jedoch einen unordentlich zusammengeknüllten blauen Morgenmantel, den irgend jemand auf ein Regalbrett geworfen und dort vergessen hatte. Salid schlüpfte aus der Jacke, zog den Morgenrock über und zerwühlte sich mit gespreizten Fingern das Haar. Keine besonders gute Tarnung, aber wenn man nicht zu genau hinsah, dann mochte er als Patient durchgehen, der sich verlaufen hatte.

Sorgfältig kontrollierte er dieTaschen seiner Lederjacke, um nichts zurückzulassen, das auf ihn hindeutete, versteckte sie auf dem obersten Regalbrett und ging dann wieder zur Tür. Er konnte die Szene hinter der Gangbiegung von hier aus nicht sehen, wohl aber hören. Die Stimme des Arztes sagte gerade: »… es nach mir ginge, säßen Sie jetzt schon in einem Polizeiwagen und könnten anderen erklären, was Sie hier zu suchen haben. «

»Geht es denn nicht nach Ihnen?« fragte der andere.

Ara Prinzip schon. Aber es sieht so aus, als hätten Sie Glück.«

»Ich kann mit ihm reden?«

»Brenner?« Salid konnte das Kopfschütteln des Arztes regelrecht hören. »Nein. Aber wenn Sie gekommen sind, um mit jemandem zu reden – das können Sie haben. Ich bin nur nicht sicher, ob es Ihnen gefallen wird … Wie ist es? Sind Sie vernünftig, oder muß ich die beiden Pfleger weiter von ihrer Arbeit abhalten und Sie bewachen lassen?«

»Kaum.«

»Das will ich hoffen. Meine Geduld hat Grenzen, wissen Sie? Und die sind fast erreicht. Sie können dann gehen, meine Herren. Aber bleiben Sie bitte in Bereitschaft – nur falls unser Gast es sich doch anders überlegt und nicht vernünftig ist.«