Выбрать главу

Salid drückte die Tür zu, ließ das Schloß aber nicht einrasten, um kein verräterisches Geräusch zu verursachen. Schritte näherten sich, passierten die Tür und wurden in veränderter

Tonlage wieder leiser, und er hörte gedämpfte Stimmen, konnte die Worte durch das Holz hindurch jedoch nicht mehr verstehen. Ungeduldig wartete er darauf, das Geräusch der Aufzugtüren wieder zu hören, aber es blieb aus.

Salid fluchte lautlos in sich hinein. Eine gute Minute verging, aber draußen rührte sich nichts – bis auf die Stimmen der beiden Pfleger, deren gedämpftes Murmeln weiter durch dieTür drang. Die Männer standen entweder immer noch vor dem Lift und warteten darauf, daß die Kabine kam, oder sie taten sonst was, aber sie waren eindeutig noch da. Seine linke Hand, mit der er noch immer mit aller Kraft den Griff herunter und die Tür gleichzeitig zudrückte, begann sich allmählich zu verkrampfen, und für eine n Moment hatte er plötzlich das bizarre Gefühl, regelrecht spüren zu können, wie die Zeit langsamer lief.

Und noch etwas.

Das Gefühl war noch verrückter, aber ebenso intensiv, und vielleicht gerade weil es so völlig absurd war, zugleich auch so real. Er spürte mit einem Mal, daß er nicht mehr allein in der Wäschekammer war.

Etwas war hier.

Jemand.

Salids Herz begann mit schweren, aber unregelmäßigen Stößen zu pumpen. Das Metall des Türgriffs in seiner Hand schien mit einem Male so kalt zu werden, daß es wie Feuer auf der Haut brannte. Irgend etwas starrte ihn an. Es war nicht nur ein Gefühl. Es war ein Blick, dessen Berührung er körperlich spüren konnte, so, wie plötzlich auch die Anwesenheit von etwas – jemand – Fremdem wie etwas Stoffliches zu spüren war, mit einer Intensität, die ihm fast Schmerzen bereitete.

Er war da.

Der Verfolger wartete nicht, bis er zu ihm kam, wie er sich eingeredet hatte. Er war hier, und wahrscheinlich war er die ganze Zeit in seiner Nähe gewesen und hatte ihn beobachtet: ein unsichtbarer Schatten, vielleicht auch ein lautloser

Beobachter in seinen Gedanken, der über jeden seiner Schritte Bescheid gewußt hatte, noch bevor er ihn tat. Hatte er sich wirklich eingebildet, ihn besiegen zu können? Das war lächerlich. Was konnte er gegen ein Wesen wie dieses schon ausrichten?

Salid schloß stöhnend die Augen, aber er sperrte die Dunkelheit damit nicht aus, sondern verbannte sie nur hinter seine Lider, und das machte es fast noch schlimmer. Er hatte keine Angst; nicht um sich und nicht in diesem Moment. Irgend etwas sagte ihm, daß das Ding, das unsichtbar hinter ihm stand, nicht gekommen war, um ihn zu töten. Das hätte es längst gekonnt; schon vor dreiTagen an jenem Morgen im Wald und vermutlich in jeder einzelnen Sekunde, die seither vergangen war. Es war hier, um etwas viel Grausameres zu tun: Es demonstrierte ihm seine Machtlosigkeit. Alles, was er tat, alles, was er plante und dachte, war zum Scheitern verurteilt. Er hatte sich in Dinge gemischt, die zu groß für ihn waren, wie ein Mann, der versuchte, eine Springflut mit bloßen Händen aufzuhalten. Das war die Botschaft, die der lautlose Schatten ihm überbrachte. Er konnte ebensogut aufgeben, die Kammer verlassen und sich den beiden Männern dort draußen stellen.

Aber Salid wäre nicht Salid gewesen, hätte er aufgegeben; nicht einmal jetzt. Statt zu tun, was ihm die Stimme seiner Furcht zuflüsterte, drehte er sich herum und starrte aus weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit hinter sich.

Er war allein, aber das intensive Empfinden einer anderen, schattenhaften Präsenz wurde eher noch stärker, nicht schwächer. Irgend etwas war mit ihm hier drinnen in der Dunkelheit. Salid riß die Augen auf, bis sie zu tränen begannen, und versuchte die Schwärze mit Blicken zu durchdringen, und als ihm das nicht gelang, die Dunkelheit hinter dieser Schwärze, die Barriere, die die Welt des Wirklichen von der des Unfaßbaren trennte. Keines von beidem gelang, aber die bloße Konzentration half ihm trotzdem, wieder ein Stückweit in die Wirklichkeit zurückzufinden.

Es war, als erwachte er aus einemTraum. Er war in Schweißgebadet, und in seinem Mund war plötzlich ein bitterer Geschmack, als hätte er etwas Schlechtes gegessen, aber das Gefühl, belauert und angestarrt zu werden, war nicht mehr da. Ganz plötzlich wußte Salid, welchem Feind er da in der Dunkelheit begegnet war.

Der Angst.

Er hatte geglaubt, zu wissen, was Angst bedeutete, aber das stimmte nicht. Er kannte alle möglichen Arten der Furcht: Furcht um sein Leben; die Furcht, seinen Gegnern in die Hände zu fallen; die Furcht zu versagen; Furcht vor Schmerzen und Krankheit und tausend andere. Aber er begriff erst jetzt, daß es eine übergeordnete, viel schlimmere Art gab, eine, die keinen Grund und keinen Auslöser brauchte. Nicht die Furcht vor etwas, sondern pure, reine Angst, die einfach da war und gegen die es keinen Schutz gab. Hier, in dieser dunklen Wäschekammer, vielleicht dem lächerlichsten Ort auf der Welt für eine solche Erkenntnis, hatte er sie kennengelernt.

Und er wußte jetzt, daß sie immer bei ihm sein würde, ganz gleich, ob es hell oder dunkel war, ob er hier drinnen oder draußen auf dem Flur war, ob allein oder inmitten Tausender von Menschen. Er hatte etwas berührt, an diesem Morgen im Wald, und diese Berührung hatte einenTeil seines Menschseins vergiftet und zu etwas anderem gemacht. Etwas, das von nun an für den Rest seines Lebens in ihm sein würde. Und das ihn am Schluß besiegen mußte.

Während der letzten halben Stunde hatte er nicht mehr auf die Uhr gesehen, aber Weichsler hätte trotzdem auf die Minute genau sagen können, wie spät es war. Die Anzahl der Zigarettenstummel zu seinen Füßen war um weitere fünf gestiegen, und er hätte sich auch jetzt eine angesteckt, wäre die Packung nicht mittlerweile leer gewesen. Er bedauerte es nicht einmal. Er hatte ohnehin nur geraucht, um seine Finger zu beschäftigen und sich abzulenken, aber es hatte nichts genutzt. Die irreale Furcht, die mit Nehrig gekommen, aber nicht wieder mit ihm gegangen war, hatte noch zugenommen. Alles, was ihm der übermäßige Nikotinkonsum eingebracht hatte,waren ein widerlich-pelziges Gefühl auf der Zunge und leichte Kopfschmerzen.

Weichsler wäre gerne nach draußen gegangen, um ein wenig frische Luft zu schnappen, aber die Erinnerung an seinen letzten Blick auf den Schulhof und das immer noch anhaltende, seidige Geräusch des Regens auf dem Dach hielten ihn nachhaltig davon ab. Außerdem war die Luft hier drinnen nicht schlecht. DieTurnhalle war groß genug, daß er schon fünf Stangen hätte rauchen müssen, um sie zu verpesten.

Außerdem hatte er den strikten Befehl, hier drinnen zu bleiben und darüber zu wachen, daß niemand dieToten stahl. Noch vor zwei Tagen hätte Weichsler über diese Formulierung gelacht, aber jetzt benutzte er sie ganz genau so in seinen Gedanken, und an den Worten war absolut nichts Komisches mehr. Wenn er überhaupt noch so etwas wie Galgenhumor gehabt hatte, so hatte Nehrigs Besuch auch noch die letzten Spuren davon ausgelöscht. Er fühlte sich einfach nur noch schlecht, und er wollte hier raus. Weg von dieserTurnhalle, diesem Ort, der sich in eine Geisterstadt verwandelt hatte, und diesem ganzen Einsatz; vor allem aber aus dieser Halle.

Bis dahin waren es noch knapp anderthalb Stunden. Eine Ewigkeit, wenn man darauf wartete, daß sie verstrich, aber trotzdem eine überschaubare Zeit. Für eine Weile hatte er sie sich damit vertrieben, daß er die Sekunden zählte und von der verbleibenden Zeit abzog; dann, indem er mit langsamen Schritten durch den Raum ging und sich auszurechnen versuchte, wie oft er dieses Hin und Her hinter sich bringen mußte, bis er endlich abgelöst wurde. Es gab noch eine ganze Anzahl ähnlicher Dinge, die er tun konnte, um sich die Zeit zu vertreiben. Sie alle waren ungefähr gleich sinnvoll, und sie alle hatten eines ge mein: Sie halfen immer nur für eine kurze Zeit. Anderthalb Stunden waren anderthalb Stunden, basta, und sie wurden um so länger, wenn man sie allein und frierend in einer ungeheizten Halle vollerToter verbringen mußte.