Weichsler sah nun doch wieder auf die Uhr und stellte fest, daß gerade einmal fünf Minuten vergangen waren, seit er seine letzte Zigarette ausgetreten hatte. Vielleicht war es eine gute Idee, noch ein paar Runden zu drehen, und sei es nur, um seinen Kreislauf wieder ein bißchen in Bewegung zu bringen. Seine Füße waren trotz der dicken Winterstiefel eiskalt, und ein paar seiner Zehen fühlten sich schon fast wie abgestorben an. Auch das war etwas, das zu dieser Alptraum-Geschichte paßte: Es war viel zu kalt für die Jahreszeit. Nach dem Kalender hätte vor ein paarTagen der Frühling beginnen sollen, aber irgendwie schien sich das Jahr in der Richtung vertan zu haben, denn es wurde jedenTag ein bißchen kälter.
Er stampfte ein paarmal mit den Füßen auf, rückte das Gewehr auf seiner Schulter zurecht und begann mit langsamen Schritten die Turnhalle zu durchqueren. Sein Blick glitt über
die präzise ausgerichteten Reihen, in denen die Feldbetten dastanden, aber obwohl er mittlerweile die dritte Nacht hier drinnen verbrachte, hatte der Anblick nichts von seiner unheimlichen Wirkung eingebüßt. Nicht nur die Betten waren alle gleich, auch die schwarzen Plastiksäcke, die darauf lagen; die meisten wenigstens.
Die zwei, die Nehrig und seine Männer vorhin gebracht hatten, waren anders. Beim ersten Hinsehen war Weichsler der Unterschied gar nicht aufgefallen, aber als er, am äußersten Punkt seiner Runde angekommen, davor stehenblieb, sah er, daß sie heller waren, und offensichtlich aus einem sehr viel dünneren Material bestanden. Die Umrisse der Körper, die sie enthielten, zeichneten sich deutlich unter dem blaugrauen Plastik ab.
Weichsler fuhr sich nervös mit dem Handrücken über das Kinn. Er konnte selbst nicht sagen, warum, aber die Ankunft dieser zwei Leichensäcke hatte ihm mehr zu schaffen gemacht
als die dreihundert zuvor. Vielleicht, weil er gehofft hatte, daß es vorbei war, und diese zwei bewiesen, daß es nicht stimmte, da man offensichtlich immer noch Tote fand. Vielleicht auch, weil er sich bei all den anderen Plastikbeuteln einreden konnte, daß sie Gott weiß was enthielten: Papier, leere Büchsen, Kleider, Gras, Abfall – irgend etwas eben, nur keine Leichen. Bei diesen beiden funktionierte es nicht. Weichsler konnte sogar erkennen, daß in dem einen der zwei Säcke eine Frau lag.
Etwas flog polternd gegen die Tür. Weichsler fuhr mit einer entsetzten Bewegung herum, riß gleichzeitig das Gewehr von der Schulter und brachte sich damit selbst aus dem Gleichgewicht. Er stürzte nicht, aber er prallte ungeschickt gegen die Liege mit dem Leichnam der Frau, fiel auf ein Knie herab und riß die Liege vollends um, als er instinktiv versuchte, sich daran festzuklammern. Der Plastiksack mit derToten rutschte auf der anderen Seite herunter und prallte gegen eine weitere Liege, die sich prompt zur Seite neigte.
Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Weichsler eine furchtbare Vision: Er sah die Feldbetten wie eine Reihe angestoßener Dominosteine eine nach der anderen umstürzen und dreihundert Leichensäcke zu Boden poltern. Natürlich geschah das nicht. Nicht einmal die nächste Liege stürzte. Sie wackelte nur ein bißchen, und der schwarze Plastiksack rutschte ein wenig nach rechts, als hätte sich der Tote darin nur einmal im Schlaf gerührt, um in eine bequemere Lage zu rutschen.
Aber das Ergebnis war auch so schlimm genug. Die Liege, die er umgerissen hatte, lag auf der Seite und hatte den Leichensack halb unter sich begraben. Eines der Beine war abgebrochen, und das zersplitterte Ende hatte den dünnen Kunststoff aufgerissen. Darunter war ein Stück einer blauen Jeansjacke zu sehen. Weichsler verfluchte sich in Gedanken für seine eigene Ungeschicklichkeit, aber als er den Blick senkte und an sich herabsah, wurde er blaß. Das Gewehr war halb von seiner Schulter geglitten, als er fiel, und er hatte es an der ungesündesten aller nur denkbaren Stellen festgehalten: am Abzug. Er konnte selbst spüren, wie alles Blut aus seinem Gesicht wich. Wäre die Waffe nicht gesichert gewesen, hätte er sich selbst das Knie weggeschossen.
Das Geräusch, das die ganze Katastrophe letztendlich ausgelöst hatte, erscholl zum zweitenmal, und Weichsler fuhr erneut und fast ebenso erschrocken hoch. Hastig stand er aufnahm das Gewehr vollends von der Schulter und entsicherte es; erst dann durchquerte er mit raschen Schritten die Halle und ging zurTür. Seine Hand zitterte, als er sie nach der Klinke ausstreckte und sie vorsichtig herunterdrückte.
Wenigstens wollte er es. Aber er hatte den Griff kaum berührt, als die Tür auch schon von einer gewaltigen Windböe erfaßt und mit solcher Wucht nach innen gedrückt wurde, daß er ein paar Schritte zurücktaumelte und beinahe schon wieder das Gleichgewicht verloren hätte.
Sturm und Kälte fielen wie eine Meute heulender Wölfe über ihn her. Der Wind peitschte ihm eiskalten Regen ins Gesicht, und er konnte kaum noch etwas sehen, obwohl er schützend die Hand über die Augen hob. Die Temperatur fiel im Bruchteil einer Sekunde so sehr, daß er die Kälte wie einen schneidenden Schmerz im Gesicht und auf den nackten Händen fühlen konnte.
Weichsler fand fluchend sein Gleichgewicht wieder, drehte das Gesicht aus dem Wind und arbeitete sich schräg nach vorne geneigt auf die Tür zu, die ihm aus der Hand gerissen worden war. Er brauchte tatsächlich seine ganze Kraft dazu; denn was vorhin noch ein starker Wind gewesen war, das schien sich mittlerweile zu einem Orkan ausgewachsen zu haben. Der Sturm peitschte den Regen fast waagerecht über den Schulhof, und selbst die hellerleuchteten Fenster auf der anderen Seite waren nicht mehr zu sehen. Er brauchte nicht mehr zu fragen, was gegen die Tür gepoltert war. Was immer dieser Sturm ergriff und mit sich riß, mußte mit der Wucht einer Kanonenkugel herangeflogen kommen.
Er erreichte die Tür und versuchte sie zu schließen, aber sie wurde ihm sofort wieder aus der Hand gerissen. Erst als er sich mit der Schulter dagegenstemmte und mit aller Kraft schob, gelang es ihm, sie wieder zuzudrücken. Das Heulen des Sturmes sank schlagartig wieder auf ein erträgliches Maß herab.
Weichsler lehnte sich mit dem Rücken gegen dieTür, schloß für einen Moment die Augen und atmete hörbar auf. Sein Gesicht prickelte vor Kälte, und seine Jacke war völlig durchnäßt, obwohl er dem Regen allerhöchstens für ein paar Sekunden ausgesetzt gewesen war. Zumindest konnte er sicher sein, daß niemand versucht hatte, hier einzudringen, nicht einmal die Journalisten, vor denen Nehrig ihn gewarnt hatte. Niemand würde sich bei diesem Wetter hierher wagen, und selbst wenn, würde er wahrscheinlich im Regen ersaufen, noch bevor er der Schule auch nur nahe kam.
Weichsler lehnte das Gewehr, nachdem er den Sicherungshebel wieder umgelegt hatte, neben derTür an die Wand, fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das nasse Haar und sah sich kopfschüttelnd um. DieTür hatte nur ein paar Sekunden offen, gestanden, aber der Bereich davor glich trotzdem einem flachen See, der glitzernde Tentakel bis weit in die Halle hinein erstreckte. Von seinen gesammelten Zigarettenstummeln war nichts mehr zu sehen, und die vorderen zwei oder drei Reihen der schwarzen Plastiksäcke glänzten vor Nässe. Wahrscheinlich konnte er noch von Glück sagen, daß die Sturmböen die wackeligen Feldbetten nicht einfach umgeblasen hatten. Wie stabil sie waren, das hatte er ja gerade mit eigenen Augen gesehen. Was ihn auf ein anderes, im Moment viel drängenderes Problem brachte. Die Pfütze vor der Tür würde er nicht erklären müssen. Die umgeworfene Liege und den heruntergefallenen Leichensack schon. Er konnte sich Nehrigs Kommentar vorstellen, wenn der die Bescherung sah. Besser, er versuchte den Schaden wiedergutzumachen. Mit ein bißchen Glück konnte er die Liege notdürftig reparieren und den zerrissenen Sack so hinlegen, daß niemand auf den ersten Blick etwas sah.
Er hängte sich das Gewehr wieder über die Schulter, überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, daß die Tür auch sicher verschlossen war und nicht etwa beim nächsten Windstoß wieder auffliegen würde, und machte sich auf den Weg. Seine Stiefel erzeugten platschende Geräusche in der zentimeterhohen Pfütze auf dem Boden. Der Wassermenge nach zu schließen, die der Wind in den wenigen Augenblicken hereingeweht hatte, mußte draußen allmählich die Welt untergehen. Und jemand war hier drinnen bei ihm.