Weichsler blieb mitten in der Bewegung stehen und starrte die feuchten Fußabdrücke an, die vor ihm auf dem Betonboden glänzten. Es waren nicht wirklich die Abdrücke menschlicher Füße, dazu waren sie zu verwischt und zu undeutlich, aber der Abstand stimmte, sie waren gleichmäßig und gegeneinander versetzt: Es waren Spuren. Sie führten aus der Pfütze hinter ihm heraus und verschwanden zwischen den Bettenreihen. jemand war durch die Tür gekommen, durch die Pfütze gegangen und dann irgendwo in der Halle verschwunden.
Weichsler spürte, wie sich jedes einzelne Haar auf seinem Kopf sträubte, als er begriff, was diese Beobachtung wirklich bedeutete. Die Pfütze war nicht dagewesen, bevor er die Tür geöffnet hatte, und das bedeutete nicht weniger, als daß wer immer auch hereingekommen war unmittelbar an ihm vorbeigegangen sein mußte. Und das war vollkommen unmöglich.
Er schloß die Augen, zählte in Gedanken bis fünf und sah noch einmal hin. Die Spuren waren noch da. jemand war hier drinnen.
Und letztendlich spielte es keine Rolle, wie er hereingekommen war. Weichslers Befehle für diesen Fall waren eindeutig. Er nahm das Gewehr von der Schulter, entsicherte es erneut und drehte sich einmal um seine Achse. Er sah nichts, aber das hatte er auch nicht erwartet. Wahrscheinlich kauerte der Mistkerl hinter irgendeiner Liege und lachte sich halb tot über sein ratloses Gesicht und noch mehr über den Schreck, den er ihm eingejagt hatte. Nun, sie würden sehen, wer als letzter lachte. Weichsler sparte sich die Mühe, den Eindringling zum Aufgeben aufzufordern. Statt dessen zog er das Funkgerät aus dem Gürtel und drückte die Sprechtaste. »Hier Weichsler. Hauptstelle, bitte kommen.«
Nichts. Aus dem kleinen Gerät drang nur statisches Rauschen. Weichsler wiederholte seinen Ruf insgesamt dreimal. Er schaltete das Walkie-Talkie aus und wieder ein, wechselte zweimal den Kanal und drückte schließlich wahllos auf alle Knöpfe, aber es änderte nichts. Das Gerät war tot oder das Wetter schlug solche Kapriolen, daß es eine Verbindung unmöglich machte. Weichsler hielt das für unwahrscheinlich. Er verstand nicht viel von Funkgeräten, aber die Gegenstelle war keine fünfzig Meter entfernt. Wahrscheinlich war das Ding einfach kaputtgegangen – und Murphys Gesetz zufolge natürlich im ungünstigsten aller nur denkbaren Momente. Weichsler steckte es ein, ergriff statt dessen das Gewehr wieder mit beiden Händen und drehte sich erneut einmal im Kreis. Die Halle war immer noch leer, aber das bedeutete nichts. Zwischen den gut dreihundert Liegen war genügend Platz, um eine ganze Armee zu verstecken.
»Also gut! « rief er mit so lauter, fester Stimme, wie er nur konnte. »Du hast deinen Spaß gehabt, aber jetzt reicht es! Komm raus! «
Nichts rührte sich. Weichsler hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, eine Antwort zu bekommen, aber er wiederholte seine Aufforderung trotzdem noch einmaclass="underline" »Das hat doch keinen Sinn mehr. Du machst es nur schlimmer! Komm raus, und wir reden über alles. Wer weiß, vielleicht lasse ich dich sogar laufen. Ich habe eigentlich keine Lust, eine Meldung zu machen und dann stundenlang Formulare ausfüllen zu müssen! «
Er bekam immer noch keine Antwort, und trotzdem hatte er das Gefühl, daß sich in der Dunkelheit vor ihm etwas regte. Es war das unheimliche Gefühl, angestarrt zu werden, und das aus Augen, die alles andere als freundlich waren. Seine Hände schlossen sich fester um das Gewehr, aber das Gefühl der Sicherheit, das ihm das vertraute Gewicht der Waffe eigentlich vermitteln sollte, blieb aus. Ganz im Gegenteil begann sich mit einem Male eine Beklemmung in ihm breitzumachen, und ganz plötzlich kam ihm zu Bewußtsein, wie unwirklich die ganze Szenerie war. DieTurnhalle war hellerleuchtet; trotzdem schien sie mit einem Male voller schwarzer, bodenloser Schatten zu sein, in denen alles mögliche lauern konnte. Aus dem seidigen Geräusch des Regens war längst ein hämmerndes Prasseln geworden, das selbst das Heulen des Windes übertönte, und die Temperatur war weiter gefallen. Es war jetzt so kalt hier drinnen, daß er seinen eigenen Atem als grauen Dampf vor dem Gesicht erkennen konnte. Kein Wunder, daß er allmählich durchdrehte.
Weichsler wandte sich zum drittenmal den vermeintlichen Fußspuren zu und besah sie sich genauer. Er war jetzt nicht mehr ganz sicher, daß es wirklich Fußabdrücke waren. Sie sahen so aus, sicher, aber im Grunde nur auf den ersten Blick. Möglicherweise waren es auch nur ein paar nasse Flecke, die rein zufällig die richtige Anordnung hatten, daß sie wie Fußabdrücke aussahen. Logisch betrachtet, war es nicht möglich. Niemand konnte an ihm vorbei durch dieTür gegangen sein, ohne daß er es merkte.
Normalerweise hätte er nach dem Ausfall des Funkgeräts zum Schulhaus hinüberlaufen und Alarm schlagen müssen. Aber das hätte bedeutet, in den Regen und den immer heftiger tobenden Sturm hinaus zu müssen, und außerdem: wenn er tatsächlich mit einem Dutzend Männer zurückkam und sie die Turnhalle auf den Kopf stellten und nichts fanden … nein, danke! Er hatte wenig Lust, nach allem, was er durchgemacht hatte, auch noch zum Gespött der ganzen Einheit zu werden.
Weichsler beschloß, einen Kompromiß mit sich selbst zu schließen. Er hatte sich selbst zwar schon fast davon überzeugt, daß er nur einerTäuschung und dem Zustand seines überstrapazierten Nervensystems aufgesessen war, aber er ging trotzdem zurTür zurück, schloß sie sorgfältig ab und begann dieTurnhalle dann gründlich zu durchsuchen. Zweimal schritt er jede Bettenreihe ab, wobei er sich dann und wann überraschend herumdrehte oder in die Hocke sinken ließ, um einen Blick durch den Wald aus dünnen hölzernen Beinen zu werfen, der sich unter der schwarzen Plastiklandschaft erhob. Die einzige Bewegung, die er sah, war die seines eigenen Schattens.
Allmählich hatte er das Gefühl, sich lächerlich zu machen. Gottlob war ja niemand hier, der über ihn lachen konnte; aber wie es aussah, war es wirklich eine gute Idee gewesen, keinen Alarm zu schlagen.
Trotzdem brachte er seine Inspektion sorgsam zu Ende und kontrollierte am Schluß auch noch die beiden einzigenTüren, die es außer dem Eingang gab. Die eine führte zu einem kleinen Raum, in dem Matten, Bälle und all die anderen Sportgeräte aufbewahrt wurden, die man in einerTurnhalle vorzufinden erwartete. Weichsler hatte ihn zu Beginn seiner Wache inspiziert und die Tür dann abgeschlossen, und das war sie auch jetzt noch. Der Schlüssel befand sich in seiner rechten Jackentasche.
Die andere führte zu den Umkleideräumen und den Toiletten. Weichsler durchsuchte beides gründlich und scheute auch nicht die Mühe, wahllos einige der Spinde zu öffnen und hineinzusehen. Als er mit seiner Inspektion fertig war, hatte er noch zwanzig Minuten Zeit bis zur Wachablösung, aber er war jetzt wenigstens sicher, daß außer ihm keine lebende Seele in derTurnhalle weilte.
Niemand bis auf den Mann, der in der zweiten Reihe links neben der Tür stand und sich über einen der Leichensäcke beugte, hieß das.
Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Weichsler war für eine Sekunde vollkommen schockiert; so sehr, daß er einfach dastand und die Gestalt anstarrte, ohne überhaupt zu begreifen, was er sah. Aber dann gewannen seine über lange Jahre antrainierten Reflexe die Oberhand. Er war immer noch schockiert und auf eine Weise erschrocken, die ihm allein durch ihre Beschaffenheit Furcht einflößte, aber er riß trotzdem in einer einzigen, fließenden Bewegung die Waffe von der Schulter und richtete sie auf den Fremden.
»Keine Bewegung! Wenn Sie sich auch nur rühren, schieße ich! «
Der Fremde rührte sich tatsächlich nicht, aber Weichsler hatte das sonderbare Gefühl, daß das weniger an seinen Worten lag, sondern vielmehr daran, daß er viel zu sehr auf das konzentriert war, was er tat. Weichsler hatte laut genug gesprochen, um fast zu schreien, aber er schien ihn gar nicht gehört zu haben.