»Sie da! Weg von der Liege! Zurück! Und drehen Sie sich herum – ganz langsam! «
Diesmal hatte er geschrien, aber der Bursche zuckte nicht einmal. Weichsler spürte, wie jeder einzelne Nerv in seinem Körper zu vibrieren begann. Sein rechter Zeigefinger hatte sich um den Abzug der Waffe gekrampft und ihn fast bis zum Druckpunkt durchgezogen. Was, wenn der Bursche seine Worte einfach ignorierte? Er konnte ihn doch nicht über den Haufen schießen!
Aber er würde es tun, wenn kein Wunder geschah. Es war eine jener Katastrophen, die man ganz deutlich kommen sieht, ohne auch nur das Geringste tun zu können, um sie aufzuhalten; und das, obwohl man ganz genau weiß, wie. Noch ein Sekundenbruchteil, und er würde abdrücken und den Mann erschießen, und
–genau in diesem Moment richtete sich der Fremde auf, trat einen halben Schritt von der Liege zurück und drehte sich zu ihm herum.
Weichsler riß erstaunt die Augen auf. Bisher hatte er im Grunde nur einen hellen Schemen gesehen, der sich über die Liege beugte, aber jetzt konnte er den Fremden deutlich erkennen. Es war ein Mann von unbestimmbarem Alter vielleicht dreißig, vielleicht auc h Mitte vierzig oder noch älter. Die ganze Gestalt wirkte … bizarr. Ein anderes Wort fiel Weichsler dafür nicht ein.
»Wer sind Sie?« fragte Weichsler nervös. »Wie kommen Sie hier herein, und was tun Sie hier?« Obwohl er drei Fragen auf einmal gestellt hatte, gab er dem anderen nicht einmal die Gelegenheit, auf eine davon zu antworten, sondern trat auf ihn zu und winkte herrisch mit der Waffe.
»Zurück da! Treten Sie von der Liege zurück, und ganz vorsichtig! Ich will Ihre Hände sehen!
Der andere rührte sich nicht. Er sah Weichsler sehr aufmerksam, aber ohne eine Spur von Schrecken oder gar Furcht an. Seine Augen waren seltsam: dunkel und auf eine beunruhigende Weise klar, aber zugleich auch irgendwie verschleiert, als hätte er auf eine Art zu sehen gelernt, die anders war als die Weichslers, zugleich aber beinahe verlernt, Dinge wirklich wahrzunehmen.
Wer war dieser Kerl? So eine Art verrückter Hare-KrishnaBruder?
»Verdammt noch mal, du sollst einen Schritt zurücktreten! « sagte Weichsler gepreßt. »Du mußt lebensmüde sein! Das hier ist militärisches Sperrgebiet, ist dir das klar? Wir haben Schießbefehl! «
Er unterstrich seine Worte mit einer weiteren drohenden Bewegung mit dem Gewehr, und diesmal erreichte er zumindest eine Reaktion, wenn auch nicht unbedingt die, die er gewollt hatte.
Der Blick der beunruhigenden dunklen Augen folgte der Bewegung und blieb schließlich auf der Waffe hängen. Aber er wirkte immer noch nicht erschrocken, sondern allenfalls neugierig-interessiert. Der Kerl nahm ihn entweder nicht ernst, oder er hatte noch nie im Leben eine Waffe gesehen.
Dann sah Weichsler etwas, das ihn diese Frage schlagartig vergessen ließ.
Der Leichensack, über den sich der Fremde gebeugt hatte, war offen. Der Kunststoff-Reißverschluß war heruntergezogen, so daß er Gesicht und Schultern des Mannes erkennen konnte, der darin lag.
»Was, zumTeufel – ?« Weichsler fuhr wieder zu dem Fremden herum und richtete den Gewehrlauf nun direkt auf sein Gesicht. Eine jähe Woge heißer Wut kochte in ihm empor und für einen winzigen, aber furchtbaren Moment mußte er sich mit aller Macht beherrschen, um dem Kerl nicht den Gewehrkolben ins Gesicht zu schlagen.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte er mit zitternder Stimme. »Was soll das alles hier? Wofür hältst du dich? Für jemanden, der keinen Respekt vor denToten zu haben braucht?«
Er bekam auch jetzt keine Antwort, aber in den Augen des anderen glomm etwas auf, das vielleicht ein Lächeln sein konnte, möglicherweise aber auch das genaue Gegenteil. Dann verschwand er.
Er lief nicht etwa davon oder verblaßte oder verging in Rauch und Feuer. Er war einfach weg, von einem Sekunden Bruchteil zum anderen, lautlos und vollkommen undramatisch, und vielleicht gerade deshalb um so beeindruckender. Weichsler starrte die Stelle, wo der Fremde gestanden hatte, eine geschlagene halbe Minute lang an, ehe er auch nur fähig war zu blinzeln. Er war nicht einmal wirklich erschrocken. Und er war nicht im geringsten überrascht, als er sich schließlich umwandte und sah, daß der schwarze Plastiksack hinter ihm geschlossen war.
Er mußte sich gehörig den Schädel angeschlagen haben, denn das erste, was er nach seinem Erwachen spürte, waren rasende Kopfschmerzen. Das nächste war etwas in letzter Zeit Wohlbekanntes, von dem er allerdings gehofft hatte, es nicht so bald wieder zu spüren: den Einstich einer Nadel in die linke Armvene, dem ein kurzes, heftiges Brennen folgte. Dann hörte er die Stimme der Krankenschwester: »Ich glaube, er wacht auf.«
»Irrtum. Er ist wach und spielt nur noch den Schlafenden.« Die Nadel wurde mit einem Ruck aus Brenners Vene gezogen, der seiner Auffassung nach viel zu heftig ausfiel, und er öffnete widerwillig die Augen, um direkt in das Gesicht des behandelnden Arztes zu blicken.
»Hat wenig Sinn, den Jungs da etwas vormachen zu wollen«, fuhr dieser mit einer Geste auf den Instrumententisch und einem reichlich humorlosen Lächeln fort. »Sie merken so ziemlich alles, wissen Sie? Wie fühlen Sie sich?«
»Ich habe Kopfschmerzen«, antwortete Brenner.
»Gut. Der Größe der Beule an Ihrer Schläfe nach zu schließen, dürften sie ziemlich heftig sein.«
»Stimmt«, preßte Brenner zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ihr Mitgefühl tut wirklich gut, Professor.« Er hatte inzwischen die Stimme dem Gesicht zugeordnet.
»Wer sagt, daß ich welches habe?« antwortete Schneider übellaunig. »Warum erwartet eigentlich jedermann von uns Medizinern, daß wir ständig und für alles Verständnis haben? Ich finde, es geschieht Ihnen ganz recht. Ist Ihnen eigentlich klar, wie leichtsinnig Sie sich verhalten haben?«
»Aber ich wollte doch nur – «
»– aufstehen und ein bißchen herumspazieren, ich weiß«, unterbrach ihn Schneider. »Und dabei möglicherweise so ganz nebenbei zunichte machen, was wir in den letzten Tagen erreicht haben.« In Schneiders Augen blitzte es ärgerlich. Sein Zorn war nicht gespielt und möglicherweise verständlich, zumindest aus seiner Sicht. Aber nicht in diesem Ausmaß. Trotzdem verfehlten die Worte ihre Wirkung nicht.
»Es tut mir leid«, sagte Brenner. »Ich wollte Ihnen wirklich keinen Ärger machen, Herr Professor.«
»Dann wären Sie besser nicht aufgestanden und herumspaziert, als hielten Sie sich für einen jungen Gott«, antwortete Schneider in noch immer strafendem, aber zugleich auch schon fast versöhntemTon. Ärzte waren vielleicht keine Heiligen, die alles verziehen und verstanden, aber sie waren offensichtlich Kummer gewohnt. Er sah Brenner einen Moment lang strafend an, ehe er fortfuhr: »Aber jetzt mal im Ernst: Was haben Sie sich nur dabei gedacht? Ist Ihnen eigentlich klar, was Ihnen alles hätte passieren können?«
»Ich fürchte, nein«, gestand Brenner zerknirscht. »Es tut mir wirklich leid. Aber ich habe mich kräftig genug gefühlt, um – «
»Natürlich haben Sie das! « unterbrach ihn Schneider. »Sie sind ja auch bis zum Stehkragen mit Medikamenten vollgepumpt.« Er deutete wieder auf die Geräte neben dem Bett. »Die Dinger da passen nicht nur auf Sie auf, sie bewahren Sie auch vor den schlimmsten Schmerzen und anderen Unannehmlichkeiten. Und wahrscheinlich geben sie Ihnen auch das Gefühl, Bäume ausreißen zu können. Aber nur, solange Sie es lassen, glauben Sie mir.«
Brenners Kopf tat zu weh, als daß er Schneiders Geste mit Blicken folgte, aber er spürte auch so, daß er während seiner Ohnmacht wieder an jedes einzelne Kabel angeschlossen worden war. Nur, daß ihn der Gedanke nicht beruhigte. Ganz im Gegenteiclass="underline" Die einzigen Minuten in den letzten drei Tagen, in denen er sich halbwegs wohl gefühlt hatte, waren eigentlich die gewesen, in denen er nicht mit den Apparaten verkabelt war – und keine Nadel im Arm gehabt hatte, aus der Weiß-Gott-Was in seinen Kreislauf getröpfelt war.
»Ich kann sehen«, sagte er unvermittelt. Schneider blinzelte. »Wie?«
»Meine Augen«, antwortete Brenner. »Ich kann plötzlich viel besser sehen. Noch nicht richtig, aber kein Vergleich zu gestern. Es kam ganz plötzlich: Ich bin wach geworden und konnte wieder sehen. Deshalb bin ich aufgestanden.«