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Schneiders Reaktion verwirrte ihn. Der Arzt blickte ihn einige Sekunden lang durchdringend an, und er sah ihm jetzt zum erstenmal nicht nur ins Gesicht, sondern direkt in die Augen. Dann trat er rasch einen Schritt zurück, hob die Hand und fragte: »Wie viele Finger sind das?«

»Vier«, antwortete Brenner – was, um ehrlich zu sein, beinahe geraten war. Schneiders Hand befand sich schon im unscharfen Grenzbereich seines noch immer eingeschränkten Gesichtsfeldes, so daß er nicht ganz sicher war, ob er nur zwei, drei oder vier Finger in die Höhe streckte. Aber es war eine DreißigProzent-Chance, und er landete einen Treffer. Schneider war für einen Moment so verblüfft, daß er sein Gesicht gar nicht zu sehen brauchte, um seine Überraschung zu spüren. Und er war wohl auch zu verblüfft, um den Versuch zu wiederholen, denn er trat wieder näher und sah Brenner erneut einige Sekunden lang wortlos an. Seltsamerweise las Brenner alle möglichen Empfindungen in seinen Augen – Überraschung, Verwirrung, berufsmäßige Neugier und jene Art mißtrauischen Zweifels, die bei Männern wie ihm wohl schon zu einer Art Instinkt geworden ist – , nur eines nicht: Freude.

»Ihre Erleichterung scheint sich in Grenzen zu halten«, sagte Brenner.

Schneider fuhr ein ganz kleines bißchen zusammen und zwang prompt ein unechtes Lächeln auf sein Gesicht. »O nein«, sagte er hastig. »Sie tun mir unrecht. Ich freue mich immer, wenn meine Arbeit von Erfolg gekrönt wird. Es kommt nur… ziemlich überraschend.«

»So?« Brenner bemerkte, daß Schneider einen raschen Blick mit der Krankenschwester tauschte, der mehr war als ein bloßer Blick. »Ich dachte, Sie selbst hätten es vor ein paar Stunden so prophezeit – spontan und irgendwann. «

»ja, natürlich«, antwortete Schneider hastig. Sein Lächeln wirkte plötzlich noch unechter. »Manchmal überrascht es einen, wenn die eigenen Vorhersagen plötzlich eintreffen. Es kam ganz plötzlich, sagen Sie?«

Brenner unterdrückte gerade noch den Impuls zu nicken, was seinen Schädel wahrscheinlich endgültig zum Platzen gebracht hätte. »Ich habe die Augen aufgemacht und konnte sehen, ja. So sollte es doch sein, oder?« Er war jetzt sicher, daß Schneider kein bißchen erleichtert war, sondern ganz im Gegenteil besorgt. Um nicht zu sagen: erschrocken.

»ja, natürlich. Aber hüten Sie sich, sich zu sehr zu freuen. Sie könnten einen ebenso spontanen Rückfall erleiden. Schwester was ist mit dem Ding los?«

Brenner biß in Gedanken die Zähne zusammen und drehte nun doch den Kopf in den Kissen. Der Schmerz war weniger schlimm als erwartet, aber was er sah, gefiel ihm nicht. Schneider mochte seine Gründe haben, so und nicht anders zu reagieren, aber er sah in den Augen der Schwester die gleiche Bestürzung, und sie gab sich nicht einmal sonderlich Mühe, sie zu verbergen. Auf die Worte des Arztes hin beugte sie sich hastig über den Instrumententisch und begann – Brenner war sicher, ziemlich wahllos – an Schaltern und Knöpfen zu hantieren. Schließlich drehte sie sich mit einem übertriebenen Achselzucken wieder um.

»Es funktioniert alles tadellos.«

Schneiders Blick machte deutlich, was er vom technischen Verständnis seiner Nachtschwester hielt. Aber er sparte sich jede dementsprechende Bemerkung. »Es ist gut, Schwester«, sagte er. »Bitte sehen Sie jetzt nach unseren Gästen. Ich möchte nicht, daß sie zu lange allein sind.«

Die Schwester ging, aber Schneider machte keine Anstalten, ihr zu folgen. Allerdings sagte oder tat er auch nichts, sondern sah Brenner nur weiter auf diese sonderbare Art an. Seine Blicke begannen ihn allmählich nicht nur zu beunruhigen, sondern regelrecht nervös zu machen. Irgend etwas stimmte hier nicht.

»Fühlen Sie … sonst noch eine Veränderung?« fragte er schließlich.

»Sollte ich denn?«

»Ich hasse es, auf eine Frage eine Gegenfrage anstelle einer Antwort zu bekommen«, sagte Schneider, schon wieder eine Spur schärfer, aber trotzdem noch immer hörbar nervös.

»Ich bin nicht sicher«, sagte Brenner. »Ich glaube, ich erinnere mich jetzt besser.«

»Woran?«

»Keine Ahnung«, gestand Brenner. »Gestern hätte ich noch geschworen, daß es nur Alpträume sind, aber mittlerweile … « Er zuckte im Liegen mit den Schultern, und das tat weh; so sehr, daß er es kein zweites Mal versuchen würde. »Was ist eigentlich wirklich passiert? Ich erinnere mich nur an eine Explosion und Feuer-und jede Menge krauses Zeug.«

»Viel mehr weiß ich auch nicht«, antwortete Schneider – in einem Ton, der dem hörbaren Nachsatz und das ist gelogen gleichkam. Mittlerweile schien er sich wohl auch darauf eingestellt zu haben, daß Brenner wieder sehen konnte; denn als er fortfuhr, wich er jedem direkten Blickkontakt aus. »Ich kann Ihnen nur das sagen, was in den Zeitungen gestanden hat. Wie es aussieht, sind Sie und dieses Mädchen direkt in den großen Showdown zwischen Abu el Mot und einer CIA-Einheit hineingeraten.«

»Abu el Mot?«

»Ein Terrorist«, antwortete Schneider. »Sein richtiger Name ist Salim oder Salid … irgend etwas in dieser Art. Sie haben ihn seit zehn Jahren rund um die Welt gejagt – und Sie und dieses arme Mädchen hatten anscheinend das Pech, genau dort zu sein, wo sie ihn gestellt haben.«

»Moment«, sagte Brenner. »Wenn ich mich richtig erinnere, ist das halbe Kloster in die Luft geflogen – «

»Das ganze«, verbesserte ihn Schneider. »Es gab keine Überlebenden, abgesehen von Ihnen. Und auch Sie haben nur überlebt, weil Sie sich ungefähr zehn Meter unter der Erde befanden.«

»Aber so etwas gibt es doch nicht«, sagte Brenner. Eigentlich tat er es wider besseres Wissen; er spürte einfach, daß jedes Wort von dem, was Schneider sagte, wahr war. Trotzdem fuhr er fort: »Ich meine, so was passiert doch nur im Film.«

»Stimmt«, sagte Schneider. »Normalerweise kommt so etwas nur in amerikanischen Action-Filmen vor; und nicht einmal in den besten. Aber diesmal ist es wirklich passiert.«

»Ein CIA-Helikopter und ein weltweit gesuchter Terrorist liefern sich über einem verwunschenen Kloster ein Luftduell, und ich erinnere mich nicht einmal. Das ist unfair.«

Schneider lächelte. Aber nur für eine Sekunde. »Das werden Sie schon noch«, sagte er. »Ich schätze, Sie werden eine Menge Geld mit der Geschichte verdienen, wenn Sie erst einmal hier heraus sind und die Journalisten über Sie herfallen. Aber ich fürchte, zuvor werden Sie noch eine Menge Fragen beantworten müssen.«

»Die CIA?«

Schneider verneinte. »Ich sagte doch, so etwas passiert normalerweise nur in zweitklassigen Filmen, nicht in Wirklichkeit und nicht in der Bundesrepublik Deutschland. Wenn ich die Zeitungen richtig gelesen habe, haben die Amerikaner im Augenblick die Köpfe eingezogen und spielen toter Mann. Die Öffentlichkeit ist nicht glücklich über diese Wildwest-Aktion, und die Presse spielt die Geschichte entsprechend hoch. In den letzten Tagen waren dreimal Beamte der Staatsanwaltschaft hier, von der Polizei ganz zu schweigen. Ich halte sie Ihnen vom Leibe, solange ich kann. Aber allzu lange werde ich es nicht mehr können, fürchte ich.«

»Ich kann Ihnen nicht viel sagen«, meinte Brenner.

»Seien. Sie froh«, antwortete Schneider. »Und wenn Sie noch einen privaten Rat von mir wollen: Bleiben Sie dabei. Ganz egal, wer Sie fragt. Und was.«

Seltsam – aber wieso hatte Brenner immer mehr das Gefühl, daß Schneider um den heißen Brei herumredete? Er hatte selten einen Menschen getroffen, der so direkt war wie dieser Arzt, aber jetzt druckste er herum wie ein Schuljunge. Brenner beschloß, es ihm – und sich selbst – ein bißchen leichter zu machen und ihm ein Stichwort zu geben.

»Dieses Mädchen, das bei mir war … die Anhalterin. Hat man sie gefunden?«

»Nein«, antwortete Schneider. »Nicht einmal ihren Leichnam. Er muß vollkommen verbrannt sein.«

Aber woher wußte Schneider dann von ihr? Wenn von den Bewohnern des Klosters niemand überlebt hatte, dann konnte auch niemand wissen, daß er das Mädchen bei sich gehabt hatte. Und das wiederum konnte nur eines bedeuten: Schneider log. Aber warum?