Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß ihn sein eigener Schatten nicht verraten würde, näherte er sich ihr und spähte vorsichtig in den dahinter liegenden Raum. Er war wesentlich größer als dieses Vorzimmer und erinnerte in seiner kalten Funktionalität mehr an eine Fabrikhalle als an ein Büro. Der Arzt, den er vorhin gesehen hatte, befand sich nicht darin, wohl aber die beiden anderen Männer. Der ältere, grauhaarige saß in einem schweren Ledersessel hinter dem Schreibtisch, während der jüngere aufgeregt auf der anderen Seite des Tisches hin und her lief.
Etwas Sonderbares geschah: Selbst draußen, unmittelbar vor derTür, hatte Salid die Worte nicht verstehen können, obwohl sich wahrlich keiner der beiden Mühe gab, leise zu sein. Jetzt, als er sie sehen konnte, wurden aus Lauten plötzlich Worte.
»Ich hätte Sie für vernünftiger gehalten, Bruder Johannes«, sagte der Grauhaarige. Seine Stimme klang sehr streng, strafend, aber nicht wie die eines Vaters, der mit seinem uneinsichtigen Sohn sprach, sondern wie die eines Schulleiters, der mit einem seiner Zöglinge spricht – einem, dem er insgeheim am liebsten den Hals herumgedreht hätte. »Fällt Ihnen nicht selbst auf, wie lächerlich das klingt, was Sie da sagen?«
Johannes blieb mitten im Schritt stehen und starrte sein Gegenüber an. »Nennen Sie mich nicht Bruder«, sagte er zornig. »Ich bin nicht Ihr Bruder, Alexander – oder wie immer Sie heißen.«
Der Mann, der sich Alexander nannte, hob besänftigend die Hände, aber die Geste war ebenso falsch wie das Lächeln, das er dabei auf sein Gesicht zwang. »Wie ich gerade sagte: Sie benehmen sich kindisch. Ich muß gestehen, ich bin ein wenig enttäuscht von Ihnen.«
»Enttäuscht? Worüber? Daß ich mich nicht mit ein paar netten Worten abspeisen lasse und einfach wieder gehe? Daß ich mich nicht einschüchtern lasse wie dieser sogenannte Arzt?«
»Professor Schneider ist ein fähiger Mann«, sagte Alexander. »Was haben Sie gegen ihn?«
»Nichts – außer vielleicht, daß er seinen Eid gebrochen hat. Er macht diesen armen Kerl krank, statt ihm zu helfen.« Alexander setzte sichtbar zu einer scharfen Entgegnung an, beließ es aber dann bei einem Kopfschütteln und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Sie sollten sich selbst reden hören, Johannes«, sagte er, nun in beinahe sanftemTon. »Was Sie da sagen, klingt verdammt nach Paranoia, ist Ihnen das klar?« »Verfolgungswahn?« Johannes lachte bitter. »Wer weiß? Vielleicht haben Sie sogar recht. Wenn es um das Ende der Welt geht, ist ein bißchen Paranoia vielleicht ganz angebracht.« Salid hätte sich um ein Haar verraten. Noch vor einer Sekunde hatte er überlegt, wieder zu gehen und die beiden ihrem Streit zu überlassen, der ihn nichts anging, aber Johannes' Worte machten alles anders. Konnte es sein, daß … daß er nicht der einzige war, der wirklich wußte, was geschah? Aber das war unmöglich! Es hatte keine Überlebenden außer ihm gegeben – ihm und diesem Versicherungsvertreter, der in irgendeinem der Zimmer hinter der nächsten Glastür lag und den zu holen er gekommen war!
»Das Ende der Welt?« Alexander beugte sich interessiert vor. »Sie scheinen einen starken Hang zum Dramatisieren zu haben, junger Freund.«
»Hören Sie auf, mir etwas vorzumachen«, antwortete Johannes verächtlich. »Sie wissen so gut wie ich, wovon ich rede. Sie wissen es besser.«
»Und warum sollte ich das?«
»Weil Sie die Zeichen genauso deutlich sehen wie ich«, behauptete Johannes. »Warum spielen Sie den Unbedarften, Alexander? Sie wissen verdammt genau, was dort draußen vor sich geht.«
»Wissen Sie, wie das klingt?« fragte Alexander lächelnd. »Das ist mir ziemlich egal!« Johannes ballte in einer hilflosen Geste die Fäuste. »Ich bin also verrückt, ja?«
»Ich würde es vielleicht etwas weniger dramatisch ausdrükken, aber – «
»Aber darauf zielen Sie ab! « fiel ihm Johannes aufgebracht ins Wort. Er beugte sich erregt über den Schreibtisch, und Alexander wich instinktiv um die gleiche Distanz zurück. »Aber wenn ich wirklich verrückt bin, wenn das alles nur Hirngespinste sind, dann verraten Sie mir, was Sie hier suchen! Weshalb sind Sie hier? Und weshalb haben Sie und Ihre Brüder all Ihre Macht aufgeboten, um diesen armen Kerl vor der Öffentlichkeit zu verstecken?«
Alexander schwieg einen Augenblick, aber als er antwortete, da klang er seltsamerweise fast erleichtert; als hätte Johannes ihm unabsichtlich weit mehr als das verraten, was seine bloßen Worte sagten. »Das kann ich Ihnen beantworten, mein Freund«, sagte er. »Immerhin sind bei diesem schrecklichen Unglück mehr als ein Dutzend unserer Brüder ums Leben gekommen, und wie es aussieht, ist Herr Brenner der einzige über lebende Zeuge, den es gibt. Natürlich möchten wir wissen, was wirklich passiert ist. Und was meine angebliche Macht angeht … hätte ich sie und wäre alles so, wie Sie glauben, dann wären Sie jetzt nicht hier, meinen Sie nicht?«
»Hören Sie doch auf! « antwortete Johannes. »Sie wissen genau wie ich, daß es begonnen hat! Sie wollen es nur nicht zugeben, weil Sie dann auch zugeben müßten, was dieses sogenannte Kloster in Wirklichkeit war. Und welche Kreatur Sie auf die Welt losgelassen haben! «
»Und das glauben Sie wirklich?« fragte Alexander sanft. »Ihre Worte schmerzen mich, mein Freund. «
Salid war zu einem Entschluß gelangt. Er hatte genug gehört, um nicht nur zu vermuten, sondern zu wissen, daß er in diesem jungen Mann zumindest einen potentiellen Verbündeten hatte und in Alexander einen erklärten Feind. Aber diese Erkenntnis machte die Situation ungemein komplizierter. Sein ursprünglicher Plan hatte vorgesehen, Brenner aus dieser Klinik zu entführen und erst einmal in das Hotelzimmer zu bringen, das er für diesen Zweck angemietet hatte. Aber nun hatte er es nicht mehr mit einer, sondern zwei Personen zu tun. Er konnte unmöglich beide mitnehmen, aber er konnte Johannes auch nicht einfach vergessen – dazu war er zu wertvoll. Also würde er tun, worin er schon immer am besten gewesen war, und improvisieren. Brenner lief ihm nicht weg, dafür – aus diesem Verdacht hatten Johannes' Worte Gewißheit gemacht – hatten die Ärzte in diesem Krankenhaus gesorgt. Statt dessen würde er Johannes mitnehmen.
Salid überlegte gerade, wie er dies am besten bewerkstelligen konnte, ohne zu großes Aufsehen zu erregen, als ihm seine Instinkte eine Warnung zukommen ließen. Jemand kam. Eine Tür war ins Schloß gefallen, und Schritte näherten sich.
Die Zeit, die ihm noch blieb, reichte nicht aus, sich zu verstecken – ganz davon abgesehen, daß es hier kein geeignetes Versteck gegeben hätte – , aber sie reichte Salid, um seine ganz eigene Art von Mimikri durchzuführen. Er wandte sich zurTür, und während er es tat, sanken seine Schultern ein Stück nach vorne. Seine ganze Haltung erschlaffte. Sein Gesicht verlor den Ausdruck angespannter Konzentration, mit dem er dem Gespräch im Nebenzimmer gefolgt war, und selbst seine Augen blickten nicht mehr annähernd so wach wie zuvor. Als die Nachtschwester das Zimmer betrat, hätte es des blauen FrotteeBademantels gar nicht mehr bedurft, um aus Salid Abu el Mot einen Patienten dieser Klinik zu machen, der sich verlaufen hatte.
»Was – ?« Die Schwester riß erstaunt die Augenauf, erstarrte für einen Moment mitten in der Bewegung und setzte den neu an, in verändertem, scharfem Tonfall und vielleicht eine Spur lauter, als es der Situation angemessen gewesen wäre. »Was tun Sie hier? Wer sind Sie, und was haben Sie hier zu suchen?«
»Ich will den Arzt sprechen«, antwortete Salid. »Das hier ist doch sein Büro. Ich will ihn sprechen.«
»Den Arzt? Welchen – « Die Schwester stockte erneut. Als sie eine halbe Sekunde später neu ansetzte, war jede Spur von Freundlichkeit aus ihrer Stimme gewichen. »Wer hat Sie hier hereingelassen?«
»Hereingelassen? Niemand«, antwortete Salid. Er legte nun einen trotzig-herausforderndenTon in seine Stimme. »Die Tür war offen. Niemand hat mich hereingelassen. Hier sagt einem ja sowieso keiner was. Ich will jetzt den Arzt sprechen. Seit einer Woche warte ich jetzt drauf, daß mir einer sagt, was mit mir los ist. Ich will jetzt endlich den Arzt sprechen! «