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Der Trick funktionierte. Der mit Mißtrauen gepaarte Zorn wich endgültig aus dem Gesicht der Schwester und machte einem Ausdruck von Resignation Platz, der nichts mit Nachgiebigkeit zu tun hatte. »Hören Sie mir zu«, sagte sie. »Sie sind hier in der falschen Abteilung. «

»Das hier ist doch die Krankenhausleitung, oder?« fragte Salid trotzig.

»Ja, aber – «

»Also!« sagte Salid triumphierend. »Ich will jetzt wissen, was Sache ist! Ich verlange auf der Stelle – «

»Sie haben hier nichts zu verlangen!« unterbrach ihn die Schwester. »Sie sind hier falsch, verstehen Sie doch. Sagen Sie niir, in welcher Abteilung Sie liegen, und ich lasse Sie zurückbringen, okay? Und gleich morgen früh werde ich mich persönlich darum kümmern, daß einer unserer Ärzte mit Ihnen spricht, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«

»Das versprechen sie mir hier seit einer Woche«, maulte Salid.

Das Gespräch im Nebenzimmer war mittlerweile verstummt. Salid hörte Schritte hinter sich und erblickte Alexander und den jüngeren Geistlichen, die hintereinander hereinkamen. Ihr Mienenspiel war sehr interessant: Johannes sah noch immer ein wenig aufgebracht aus, vor allem aber irritiert, während Alexander das Mißtrauen in Person war. Salid stufte ihn endgültig als den Gefährlicheren von beiden ein.

»Sind Sie der Arzt?« fragte Salid. »Wenn ja, dann – «

»Das ist nicht Professor Schneider«, sagte die Nachtschwester rasch. An Alexander gewandt, fügte sie hinzu: »Bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich werde die Angelegenheit sofort in Ordnung bringen.«

»Wer ist dieser Mann?« fragte Alexander. Seine Augen wurden schmal, und in seinem Blick erschien etwas, das Salid warnte. Er spannte sich unmerklich.

»Ein Patient«, antwortete die Schwester. »Wie gesagt, ein Mißverständnis. Ich werde es sofort – «

»Dieser Mann ist kein Patient«, sagte Alexander. Er sprach ganz ruhig. Seine Stimme war frei von Vorwurf oder gar Empörung, aber sie ließ auch keinen Zweifel zu.

»Kein Patient? Aber wer … «

Salid explodierte förmlich. In einer einzigen fließenden Bewegung drehte er sich halb herum, schmetterte sie so wuchtig gegen die Wand neben der Tür, daß sie halb besinnungslos zu Boden sank, gleichzeitig trat er mit dem gestreckten Bein nach hinten aus. Alexander taumelte zurück, prallte gegen den Türrahmen und sank mit einem sonderbaren, seufzenden Laut zu Boden. Das alles dauerte weniger als eine Sekunde. Noch bevor Alexander und die Schwester vollends zu

Boden gesunken waren, war Salid schon wieder herumgefahren und trat auf Johannes zu.

»Großer Gott, nein! « keuchte Johannes. »Was … was wollen Sie von mir?« Er war einen Schritt zurückgewichen und hatte in einer angstvoll-linkischen Bewegung die Hände vor das Gesicht gehoben. In seinen Augen flackerte die blanke Todesangst.

»Keine Angst«, sagte Salid hastig. »Ich tue Ihnen nichts.« Er hob in einer besänftigenden Geste die Hände, die Johannes aber vollkommen mißzuverstehen schien. Aus der Angst in seinem Blick wurde für einen Moment reine Panik. Er wich weiter zurück, stolperte über Alexanders reglosen Körper und fiel halbwegs gegen denTürrahmen.

»Bitte! « sagte Salid hastig. »Haben Sie keine Angst! Ich bin nicht Ihr Feind! « Er nahm die Hände wieder herunter und trat vorsichtshalber einen Schritt zurück. Es wirkte. Die Furcht blieb auf Johannes' Gesicht, aber die Panik verschwand.

»Hören Sie zu«, sagte Salid. »Ich kann es Ihnen jetzt nicht erklären, aber ich bin nicht Ihr Feind. Im Gegenteil – ich stehe auf Ihrer Seite.«

Hinter ihm erklang ein halblautes Stöhnen. Salid drehte sich rasch herum und ging gleichzeitig in die Hocke. Die Schwester regte sich unsicher. Sie hob stöhnend den Kopf und öffnete die Augen, aber ihr Blick blieb trüb. Salid ließ ihr keine Zeit, vollends aufzuwachen. Seine Hand tastete nach einer bestimmten Stelle in ihrem Nacken und drückte kurz und heftig zu. Der Blick der dunkelbraunen Augen erlosch endgültig.

»Großer Gott! « keuchte Johannes. »Was tun Sie? Sie … Sie haben sie getötet! «

»Keine Sorge, sie lebt noch.« Salid richtete sich wieder auf und versuchte beruhigend zu lächeln, erreichte damit aber auch jetzt wieder das genaue Gegenteil. Vermutlich spielte es keine Rolle. Mit großer Wahrscheinlichkeit konnte nichts, was er jetzt tat, Johannes beruhigen.

»Hören Sie zu«, sagte er, hastig und laut, aber in einem Ton, von dem er zumindest hoffte, daß er nicht drohend klang. »Ich kann es Ihnen jetzt nicht erklären, aber ich bin Ihr Verbündeter. Ich bin wegen Brenner hier und aus dem gleichen Grund, aus dem Sie hier sind – und auch er. « Er deutete auf Alexander. »Bitte vertrauen Sie mit einfach. Ich werde Ihnen alles erklären, sobald wir hier heraus sind. Aber jetzt muß ich Brenner finden. Wissen Sie, wo er ist?«

Johannes nickte ganz automatisch, obwohl Salid bezweifelte, daß er seine Frage überhaupt verstanden hatte.

»Wo?«

»Hinter … hinter der Tür«, stammelte Johannes. »Das … dritte Zimmer auf der rechten Seite – glaube ich.«

»Gut.« Salid wandte sich zurTür, blieb noch einmal stehen und sah zu Johannes zurück. »Bleiben Sie hier? Ich meine: Kann ich mich darauf verlassen, daß Sie keine Dummheiten machen? Nur, bis ich zurück bin und Ihnen alles erklärt habe?« »Aber was denn erklärt?« fragte Johannes verstört.

Salid wußte, daß jede Sekunde zählte. Er hatte keine Angst. Er war nicht einmal nervös. Aber er war oft genug in Situationen wie dieser gewesen, um zu wissen, daß er sich jetzt alles leisten konnte, nur eines nicht: Zeit zu verschwenden. Aber der junge Geistliche befand sich in einem Zustand, in dem er vollkommen unberechenbar war. »Sie hatten recht, Johannes«, sagte er. »Alles, was Sie zu Alexander gesagt haben, trifft zu. Und es ist in Wahrheit noch viel schlimmer, als Sie glauben.«

Natürlich war niemand dagewesen, weder im Umkleideraum noch in der Dusche und schon gar nicht hier drinnen; ebensowenig wie es Fußspuren auf dem Boden gegeben hatte oder gar Schatten. Der einzige Schatten, der sich in der Turnhalle bewegte, war sein eigener, und die einzigen Schrecken, die es hier gab, produzierte er selbst. Davon allerdings genug. Eine ganze Menge mehr, als ihm lieb war, um genau zu sein.

Weichsler brauchte nicht einmal besonders lange, um die Panik zu überwinden und die einzig mögliche Erklärung für das zu finden, was er erlebt hatte: nämlich daß er es geträumt hatte.

Als es geschah, hätte er seine rechte Hand darauf verwettet, den Mann vor sich zu sehen. Er hatte seine Stimme gehört. Er hatte in seine Augen geblickt. Es war so realistisch gewesen, wie es nur sein konnte; und trotzdem nicht wahr. Eine Halluzination, mehr nicht. Wenn Halluzinationen nicht realistisch wären, besäßen sie keinen Schrecken. Nach drei Tagen in diesem Irrenhaus hatte er vielleicht das Recht auf seine eigene kleine Verrücktheit.

Tief in sich spürte Weichsler, daß diese Erklärung nicht stimmte, aber er hütete sich, diesen Gedanken weiterzuverfolgen. Etwas in ihm schreckte vor dieser Wahrheit zurück wie eine Hand vor einer heißen Herdplatte.

Außerdem hatte er im Moment Wichtigeres zu tun, als über seltsame Gestalten nachzudenken, die sich in Luft auflösten. Nach dreiTagen, in denen jede Minute zu seinem persönlichen Feind geworden war, hatte er nun keine Zeit mehr. Seine Ablösung kam in zehn Minuten, und bis dahin mußte er wenigstens das größte Chaos hier beseitigen.

Weichsler hatte den Plan aufgegeben, die Liege reparieren zu wollen; dazu hatte er weder die Zeit noch das notwendige Werkzeug. Er würde sich damit begnügen müssen, die tote Frau wieder auf das Feldbett zu legen und die Liege so auszubalancieren, daß sie erst zusammenbrach, wenn er nicht mehr hier war.

Es kostete ihn all seine Überwindung, den dünnen Plastiksack vom Boden aufzuheben und auf das zerbrochene Bettgestell zu legen. Die Folie fühlte sich widerlich an; nicht kalt und glatt, wie es sein sollte, sondern warm, weich, beinahe … lebendig. Etwas bewegte sich darunter. Etwas, das kroch.