Weichsler versuchte den Gedanken zu verscheuchen. Seine Nerven schleiften am Fußboden, das war alles. Er bettete den Sack vorsichtig auf den natogrünen Bezug und widerstand nur mit Mühe der Versuchung, sich hastig aufzurichten und die Hände an der Hose abzuwischen. Statt dessen ließ er seine schreckliche Last nur sehr behutsam los; und jederzeit bereit, wieder zuzugreifen, sollte die Liege wieder aus dem Gleichgewicht geraten.
Sie hielt. Für einen Moment neigte sich das nunmehr dreibeinige Gestell zur Seite, kippte aber dann wieder in die Gerade zurück und stand. Weichsler richtete sich vorsichtig auf, zog die Hände zurück und lächelte erleichtert. Für ungefähr eine Sekunde, dann gefror sein Lächeln.
Der Leichensack bewegte sich.
Es gab keinen Zweifel. Es sah nicht etwa nur so aus, als bewege er sich. Es war auch nicht etwa so, als hätte sich das Wanken der Liege nur auf den Sack übertragen. Es war ganz einfach so: Der Sack – nein, nicht der Sack: etwas in ihm bewegte sich.
Etwas, das darin war und hinaus wollte.
Es war genau dieser Gedanke, der etwas in Weichslers Kopf ausrasten ließ. Es war, als würden irgendwo in seinem Gehirn Kontakte gelöst, Verbindungen unterbrochen und organische Schaltkreise deaktiviert. Alles war da, was man erwarten konnte: Panik, Entsetzen, Furcht und Hysterie, aber ihre Wirkung blieb aus. Panik und Hysterie tobten gleich tollwütig gewordener Bestien, aber sie taten es in kleinen, sorgsam verriegelten Zellen. Furcht und Entsetzen ließen seine Nerven auflodern wie den dünnen Draht einer Glühbirne, die versehentlich an eine Starkstromleitung angeschlossen wurde. Aber er tat nichts. Er konnte es nicht. Etwas in ihm blockierte jede Reaktion, eingeschlossen den vielleicht einzig vernünftigen Impuls, nämlich den, wegzulaufen, so schnell und so weit er nur konnte.
Die glänzende schwarze Plastikfolie bewegte sich weiter, beulte sich aus, schlug Falten und glättete sich wieder. Etwas darunter bewegte sich. Hände, die hinaus wollten. Fingernägel, die mit einem stumpfen Gummigeräusch über Plastik scharrten. Und irgend etwas kroch in Weichsler empor; vielleicht die Furcht, die einen anderen Weg gefunden hatte als über seine Nervenbahnen und nun in seiner Kehle hina ufkroch wie ein dicker, haariger Ball auf Spinnenbeinen. Er war immer noch unfähig, sich zu rühren. Sein Körper war vollkommen gelähmt; selbst sein Atemreflex war erloschen.
Das Zittern der Liege hielt an. Sie beugte sich zur Seite, zitterte einen Moment noch heftiger und richtete sich dann wieder auf, wie ein leckgeschlagenes Schiff nach dem Anprall einer gewaltigen Woge. Aber diesmal hörte die Bewegung nicht auf. Der Sack rollte ein Stück zur Seite, fiel zurück und knickte dann in der Mitte ein. Vor Weichslers ungläubig aufgerissenen Augen schien sich der Leichnam in seiner schwarzen Hülle ein Stückweit aufzusetzen. Nicht sehr weit und auch nicht sehr schnell – aber weit genug, um schließlich das Gleichgewicht zu verlieren und mit einem feuchten Laut zu Boden zu fallen.
Das Geräusch brach den Bann. Die schwarze Spinne sprang mit einem Satz vollends in Weichslers Hals hinauf und wurde zu einem Schrei; ein keuchender Laut, mit dem er zurückprallte und gegen eine andere Liege stieß. Dann schlug die Furcht zu. für einen Moment färbte sich alles, was er sah, rot: die Farbe der Angst. Sein Herz hämmerte so rasend schnell und hart, daß es aus demTakt zu geraten drohte, und dann konnte er wieder atmen, aber es war, als hätte er gemahlenes Glas in die Lungen gesogen. Der Anfall dauerte nur wenige Sekunden, aber vielleicht hätte er Weichsler trotzdem das Leben gerettet, hätte er getan, was ihm jede einzelne Zelle seines Körpers zuschrie: davonlaufen.
Er tat es nicht.
Vielleicht war das Entsetzen zu groß, war das, was er sah, zu bizarr, um wirklich zu sein. Er hätte davonlaufen und vielleicht sein Leben retten können, aber er hätte dieses Bild nie wieder vergessen.
Was er sah, konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. Er würde sich selbst beweisen, daß nichts von dem, was er zu sehen glaubte, Wirklichkeit war. Er mußte. Er würde den Verstand verlieren, wenn er es nicht tat.
Steif wie ein Roboter und Zentimeter um Zentimeter bewegte sich Weichsler vor und in die Hocke und streckte die Arme nach dem Plastiksack aus. Die Bewegung kostete ihn unendliche Mühe, denn all seine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt. Mühsam drehte er den Sack herum und tastete nach dem Reißverschluß. Er ließ sich nicht öffnen. Die billige Mechanik war verklemmt, vielleicht waren seine Finger auch nur zu ungelenk. Aber er mußte die Tote sehen. Er mußte sich mit eigenen Augen davon überzeugen, daß sie tot war!
Weichsler hörte auf, sich mit dem Reißverschluß abzumühen. Statt dessen tastete er nach einem der Risse, die der Sack beim Zusammenbruch der Liege davongetragen hatte. Er grub die Hände hinein und zerrte mit aller Kraft, doch so dünn das schwarze Kunststoffmaterial auch war, so zäh war es. Weichsler zog und zerrte mit aller Gewalt, aber es gelang ihm kaum, den Riß über der Hüfte zu verlängern. Der Kunststoff dehnte sich einfach unter seinen Fingern und veränderte seine Farbe in Streifen von Schwarz zu schmutzigem Grau; aber er riß nicht.
Weichsler wurde immer verzweifelter. Mit einem heftigen Ruck drehte er die Tote auf den Rücken, versuchte sein Glück noch einmal mit dem Reißverschluß und kam endlich auf die Idee, sein Messer zu ziehen. Er war so ungeschickt, daß er sich selbst einen Schnitt in den Daumen zuzog; es blutete, aber das spürte er gar nicht. Endlich hatte er die Klinge vollends heraus, geklappt.
Als er sie durch den schwarzen Kunststoff stoßen wollte, fiel sein Blick auf das Gesicht derToten. Er konnte es sehen. Nicht ungefähr. Nicht in groben Umrissen. In allen Details. Die schwarze Folie hatte sich wie eine zweite Haut über ihr Gesicht gelegt und zeichnete jedes noch so winzige Detail nach, jedes Fältchen, jede Unebenheit der Haut, jede Wimper. Er konnte die feinen, leicht geschwungenen Augenbrauen erkennen; die hochgezogenen Wangenknochen, die dem gesamten Gesicht etwas leicht Asiatisches zu verleihen schienen; die gerade Nase; selbst die grobere Hautstruktur der Lippen. Sie waren leicht geöffnet. Die schwarze Folie dazwischen bewegte sich vor und zurück. DieTote atmete.
Weichsler hatte jetzt zwei Möglichkeiten: er konnte verrückt werden – falls er es nicht schon war – , oder sein Verstand konnte eine Erklärung für das finden, was er sah, ganz gleich, wie unwahrscheinlich sie auch klingen mochte. Die Tote atmete. Aber Tote atmen nicht. Deshalb war sie nicht tot. So einfach war das.
In die Mischung aus Panik und brodelndem Wahnsinn, die Weichslers rationales Denken verschlungen hatte, mischte sich eine neue, aber gänzlich andere Furcht, als er die einzig logische Erklärung für das begriff, was sich da vor seinen Augen abspielte: Die Männer, die draußen ihren Job taten, hatten einen Fehler gemacht. Die junge Frau war nicht tot.
»O mein Gott!« flüsterte Weichsler.
Die dünne Kunststoffmembran zwischen den Lippen bewegte sich weiter, dann schlug das Material ein Stück höher Falten; die vermeintliche Tote versuchte die Augen zu öffnen, schaffte es aber nicht.
»Warten Sie! « sagte Weichsler. »Strengen Sie sich nicht an! Ich … ich helfe Ihnen! « Diese Idioten! Diese verdammten Idioten hatten eine Lebende gefunden! Sie hatten eine Überlebende der Katastrophe gefunden – vielleicht die einzige Uberlebende! – und einfach zwischen all die Toten gelegt. Diese gottverdammten Idioten hatten sie wie ein Stück Abfall in eine Mülltüte gestopft und auf den Wagen geworfen, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, ihren Puls zu fühlen!
»Nur eine Sekunde noch! « stammelte er. »Ich helfe Ihnen! Warten Sie!« Diese verdammten Idioten! Diese verfluchten, hirnrissigen Idioten! Mit seiner blutverschmierten Hand hob er das Messer auf und führte einen geraden, erstaunlich sicheren Schnitt, der die Folie von der Hüfte bis über die Schulter der jungen Frau aufklaffen ließ. »Warten Sie! Wir haben es gleich! Noch eine Sekunde, und Sie können wieder atmen. Ich hole Sie raus! «