Das Mädchen arbeitete jetzt nach Kräften mit. Eine wachsbleiche, mit Blut und Schmutz verkrustete Hand erschien in dem Riß und verbreiterte ihn, dann eine zweite. Weichsler fiel auf, daß die meisten Fingernägel gesplittert und bis weit in das empfindliche Fleisch darunter abgebrochen waren. Und noch etwas fiel ihm auf: Dem Leichensack entströmte ein klebrigsüßer Geruch. Der gleiche Geruch, der permanent seit drei Tagen die gesamte Turnhalle ausfüllte, nur ungleich intensiver. Für das Mädchen war ein Alptraum wahr geworden; vielleicht der schlimmste aller vorstellbarenTräume. Sie war lebendig begraben worden und in der Welt derToten wieder erwacht.
»Mein Gott!« stammelte Weichsler, immer und immer wieder. »Mein Gott, mein Gott! « Seine Hände zerrten und rissen an der Folie, halfen dem Mädchen, den Riß weiter zu vergrößern. Seine Finger streiften die des Mädchens, und sein Schrecken wuchs weiter, als er spürte, daß sich selbst ihre Haut wie die einer Toten anfühlte, kalt und glitschig und zu weich; nicht wie lebendes Fleisch, sondern wie Schaumgummi. Diese Frau hatte mehr erlebt als die Hölle. Weichsler riß mit aller Gewalt an der Folie, die ihren Kopf bedeckte, so daß sie sich mit einem saugenden Geräusch von ihrem Gesicht löste. Für den Bruchteil einer Sekunde blieb dessen Abdruck noch darin, es sah aus, als hätte er tatsächlich das Gesicht des Mädchens abgerissen.
Was darunter zum Vorschein kam, war auch nicht wirklich das Gesicht einer Lebenden.
Weichsler schrie. Diesmal war er nicht paralysiert, und diesmal war es kein halbersticktes Keuchen, das über seine Lippen kam, sondern ein gellender, spitzer Schrei, der als dünner Schmerz in seinem Kopf widerhallte. Das Gesicht des Mädchens war schlaff und grau, verschmiert mit eingetrocknetem Blut und Schleim.
Weichsler erinnerte sich schlagartig wieder daran, was er über die Wirkung des Kampfstoffes gehört hatte: Er tötete schnell und ausnahmslos, aber er beschränkte sich nicht darauf, das Nervensystem zu zerstören und den Kreislauf zusammenbrechen zu lassen. Seine tödliche Wirkung bestand darin, den betroffenen Organismus dazu anzuregen, ein gewisses Enzym zu produzieren, das der Natur zwar nicht unbekannt war, im Körper eines Säugetieres aber nichts zu suchen hatte, und es ähnelte vage dem Stoff, den Spinnen ihrer Beute injizieren, um das Fleisch zu verflüssigen. Die Wirkung
dieses Enzyms war nicht ganz so drastisch, aber ebenso tödlich: Das Fleisch des Be. troffenen verlor seinen inneren Halt. Es verflüssigte sich nicht, aber es wurde mürbe. Das war, was Weichsler über den Kampfstoff gehört hatte.
Jetzt sah er seine Wirkung.
Ein gut fünfmarkstückgroßes Stück aus der linken Wange des Mädchens war an der Innenseite der Folie klebengeblieben und einfach abgerissen; darunter kam weißer Knochen und ein Teil der Muskelmechanik zum Vorschein, die das Gesicht bewegt hatte, als es noch lebte. Der Mund der Toten stand immer noch offen, und das Fleisch darin hatte nicht mehr die Kraft, die Zähne zu halten; sie ragten krumm und schief hervor. Das Allerschrecklichste aber waren die Augen. Weichsler hätte es vielleicht noch ertragen, sie als ausgelaufene Höhlen zu erblicken, denen alles Menschliche fehlte; aber es waren Augen, groß und fast unversehrt, die ihn anstarrten. Was nicht stimmte, war die Farbe. Sie schienen nur noch aus Pupillen zu bestehen und hatten einen milchig-blauvioletten Ton, die Augen einerToten. Und trotzdem war Leben darin, oder wenigstens etwas wie Leben; etwas, das vor drei Tagen daraus gewichen und nun wieder hineingezwungen worden war, gegen seinen Willen, gegen alle Gesetze der Natur – und Gottes? und gegen alles, was recht war.
Weichsler erwachte endgültig aus seiner Lähmung, kippte mit wild rudernden Armen nach hinten und versuchte rücklings von dem Etwas davonzukriechen, das sich da vor ihm aus seinem schwarzen Kokon schälte. Er stieß dabei gegen eine weitere Liege und riß sie um, aber das registrierte er gar nicht. Wimmernd vor Angst kroch er weiter, stieß gegen eine weitere Liege und noch eine, bis die Wand ihn schließlich stoppte.
Mittlerweile hatte sich die Tote ihrer schrecklichen Hülle zum größtenTeil entledigt und versuchte auf die Beine zu kommen. Ihre Glieder schienen ihr nicht mehr richtig zu gehorchen, als hätten drei Tage schon ausgereicht, um zu vergessen, was sie in zwanzig Jahren gelernt hatten. Ihr Blick blieb weiter auf Weichsler gerichtet, und wieder spürte er, daß da irgend etwas in ihren Augen war; etwas, was ihn zutiefst erschreckte. Es war etwas wie ein Flehen, keine Drohung, sondern ein stummer Schrei nach Hilfe.
Möglicherweise hätte Weichsler sogar begriffen, was dieser Blick bedeutete, doch in diesem Moment geschah das, was auch noch den letzten Funken von klarem Denken in ihm hinwegfegte wie eine Sturmböe ein welkes Blatt.
Nicht nur diese eine Tote bewegte sich. Was gerade geschehen war, wiederholte sich, und nicht nur bei dem Toten neben dem Mädchen, sondern vor ihr, neben ihr, hinter ihr … Es war, als hätte man einen Stein in einen Teersee geworfen, der nun eine kreisförmige Welle über seine gesamte Oberflächezog. Überall knisterte und raschelte es; schleifende, nasse, kriechende, reißende Laute, die sich in das Heulen des Schneesturmes mischten und es schon nach Sekunden übertönten. Einer nach dem anderen, ausgehend von einem imaginären Zentrum, das sich nicht einmal weit von Weichsler entfernt befand, begannen sich sämtliche Toten aus ihren Hüllen zu befreien und aufzustehen!
Weichsler sprang in die Höhe. Etwas berührte sein Bein und versuchte sich daran festzuklammern. Weichsler brüllte wie unter Schmerzen, versuchte seinen Fuß zu befreien und spürte, wie irgend etwas zerriß, ehe er mit einem Ruck freikam und taumelnd sein Gleichgewicht wiederfand. Er nahm nicht mehr in Einzelheiten wahr, was rings um ihn herum vorging. Alles wurde unwirklich, bizarr und zugleich hyperrealistisch, wie in einem mittelalterlichen Höllengemälde. Gestalten richteten sich auf. Hände tasteten in seine Richtung. Blaugelierte, leere Augen starrten ihn an, und Weichsler riß die MN von der Schulter und drückte ab.
Das Hämmern der Maschinenpistole hätte in Weichslers Ohren überlaut sein müssen, aber irgendwie war seine Wahrnehmung gespalten. Das Rattern war nicht lauter als der Aufprall weicher Wattebälle auf einer Glasplatte, doch dafür hörte er mit gräßlicher Klarheit das Geräusch, mit dem die Geschosse das Ziel trafen: spritzende, weiche Laute, nicht der Aufschlag von Blei auf Fleisch und Knochen, sondern das Geräusch einer Eisenkugel, die in zähem Morast versinkt.
Weichsler hielt den Auslöser der Waffe niedergedrückt, während er durch die Halle stürmte. Die Geschosse heulten als Querschläger von den Wänden davon, zertrümmerten Glas und Holz, ließen ein halbes Dutzend Liegen zusammenbrechen und schleuderten zahllose Gestalten zu Boden. Aber sie blieben nicht liegen, sondern versuchten sofort, wieder in die Höhe zu kommen. Der Tod hatte seine Macht über diese Ziele verloren. Weichsler feuerte das Magazin leer, aber er hielt den Abzug trotzdem weiter durchgezogen, selbst als die Waffe längst aufgehört hatte, orangerote Flammen und Blei zu spucken.
Er mußte die Turnhalle in ihrer gesamten Länge durchqueren, um die Tür zu erreichen. Seine Munition war verbraucht, noch ehe er die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatte, aber die Salve hatte ihm trotzdem Luft verschafft. Nur einer einzigen der Zombie-Gestalten gelang es, ihm den Weg zu vertreten und die Arme nach ihm auszustrecken. Weichsler versuchte der Berührung auszuweichen, aber es gelang ihm nicht mehr. Sein eigener Schwung ließ ihn gegen den Toten prallen und riß sie beide von den Füßen. Die Hände des toten Mannes glitten über sein Gesicht und krallten sich darin fest.
Es tat nicht einmal besonders weh, aber es war das Fürchterlichste, was er jemals erlebt hatte. Die schartig gebrochenen Fingernägel rissen seine Haut auf und hinterließen blutige Kratzer, und irgend etwas Kaltes, Zähflüssiges, vermischte sich mit seinem eigenen Blut. Ein, zwei Sekunden lang lag Weichsler einfach hysterisch kreischend auf dem Boden, strampelte mit den Beinen und schlug blind um sich; dann gelang es ihm irgendwie, die entsetzlichen Totenhände abzustreifen und deren Besitzer von sich zu stoßen. Er schrie nicht mehr, denn dazu reichte sein Atem nicht mehr aus, aber während er in die Höhe sprang und weiter zur Tür taumelte, wimmerte er wie ein verängstigtes Kind. Tränen liefen über sein Gesicht, und er prallte so heftig gegen die Wand neben der Tür, daß er sich eine weitere blutende Wunde an der Stirn zuzog. Mit fahrigen Bewegungen tastete er nach der Klinke, riß die Tür auf und taumelte hinaus in die Nacht.