Der Sturm war zu einem Orkan geworden, der ihn ansprang wie ein Ungeheuer aus Lärm und Kälte und Millionen unsichtbarer schneidender Messer. Unter normalen Umständen hätte ihn bereits die erste Böe von den Füßen gerissen oder zumindest gegen die Wand gedrückt, aber die Panik und der Wahnsinn, die längst von seinem Denken Besitz ergriffen hatten, verliehen ihm zugleich auch fast übermenschliche Kräfte. Rings um ihn herum tobte eine Hölle aus Lärm und rasiermesserscharfen wirbelnden Kristallen, aber irgendwo dahinter war das Schulgebäude, waren Licht und Wärme und die anderen, war Sicherheit. Er lief los.
Hinter ihm ergriff der Sturm mit einem wütenden Heulen die Tür und riß sie endgültig aus den Angeln. Doch so unvorstellbar seine Gewalt auch sein mochte – es gab etwas, das nicht einmal er in derTurnhalle halten konnte.
Diesmal hatte er sich nicht mehr die Mühe gemacht, das Ende des Infusionsschlauches zu verknoten, nachdem er es von der Nadel in seiner Hand gelöst hatte, so daß sich auf seinem Bett ein dunkler, rasch größer werdender Fleck zu bilden begann. Es tat ihm nicht leid; ganz im Gegenteil erfüllte ihn der Anblick mit einer gewissen Befriedigung. Es war keine große, es war nicht einmal eine kleine Rache. Aber es war eine Rache.
Nebenbei: Es war der Beweis, der aus seiner Vermutung endgültig verifizierte Sicherheit machte. Die kleine Anstrengung, den Plastikschlauch von der Kanüle zu lösen, hatte fast seine Kräfte überstiegen, aber er konnte regelrecht spüren, wie sie zurückkehrten, nachdem das Teufelszeug nunmehr in die Bettdecke tropfte und nicht mehr in seinen Kreislauf.
Was weitaus langsamer zurückkehrte als seine körperlichen Kräfte, war Brenners Vermögen, logisch zu denken oder gar etwas so Kompliziertes wie Kausalität zu erkennen. Sein Denken hatte noch in Schneiders Gegenwart wieder begonnen, sich leicht zu verwirren. In den fünf Minuten, die er als Sicherheitsspanne nach dem Weggang des Arztes hatte verstreichen las. sen, war aus dem Drei-Bier-Gefühl von leichtem Benebeltsein ein Vollrausch geworden, in dem nichts mehr Bestand hatte außer dem Wunsch, sich fallen zu lassen und die warme Umarmung zu genießen.
Und dem Gedanken, die Nadel aus seiner Hand zu ziehen. Brenner konnte selbst jetzt noch nicht sagen, wieso ausgerechnet dieser Gedanke dem großen Schwamm widerstanden hatte, mit dem etwas die Schiefertafel in seinem Kopf leerzuwischen begann, aber er war dagewesen, so klar und leuchtend wie ein Feuer in schwärzester Nacht: Er mußte die Nadel loswerden. Es war ihm nicht gelunge n. Er hatte es versucht, aber der Schmerz, die Nadel mit seinen ungelenken Fingern aus seinem Fleisch zu ziehen, war zu groß gewesen, so daß er schließlich nur den Schlauch abgezogen hatte. Unmittelbar darauf begann er sich besser zu fühlen. Körperlich.
Trotzdem vergingen noch gute zehn Minuten, bis sich der graue Nebel in seinem Kopf halbwegs lichtete, wenigstens so weit, daß er überhaupt begriff, was er getan hatte. Auch dann konnte er noch nicht wirklich klar denken, aber in dem undurchdringlichen Nebel zwischen seinen Schläfen erschienen nach und nach weitere Leuchtfeuer. Er war ein Gefangener. Die, die sich als seine Freunde ausgaben, waren seine Feinde. Er mußte weg. Das tote Mädchen finden. Jeder dieser Gedanken schien vollkommen isoliert für sich zu stehen, und obwohl sie hintereinandergereiht durchaus eine Geschichte erzählten, fehlte doch die Geschichte dahinter, so daß ihnen eigentlich jede Glaubwürdigkeit abging. Trotzdem hatte jedes dieser Leuchtfeuer ein Gewicht, das die Frage nach seinem Wieso erst gar nicht aufkommen ließ. Er war ein Gefangener. Alle, die sich für seine Freunde ausgaben, waren seine Feinde. Er mußte hier weg, und er mußte das Mädchen finden. So einfach war das und wichtiger als sein Leben.
Es dauerte lange, aber irgendwann fand er die Kraft, sich in seinem Bett aufzusetzen und den Kopf nach rechts zu drehen. Sein Sehvermögen hatte wieder nachgelassen, aber das überraschte ihn nicht; sonderbarerweise erschreckte es ihn auch nicht. Ohne daß er sagen konnte, warum, wußte er, daß er genau das erwartet hatte – er hatte sogar das absurde Gefühl, daß er enttäuscht gewesen wäre, hätte er mehr gesehen als grauen Nebel mit verschwommenen Konturen. Aber er mußte auch nichts sehen, um zu wissen, daß der elektronische Verräter auf dem kleineTischchen neben seinem Bett stand. Er wußte sogar, wie er ihn überlisten konnte. Sein erster Impuls war gewesen, die Kontakte zu lösen, die an seinem Brustkorb und den Schläfen befestigt waren, doch das hätte irgendwo zwei oder drei Zimmer entfernt sofort Alarm ausgelöst.
Statt dessen verlagerte er sein Gewicht behutsam auf den rechten Ellbogen, biß die Zähne zusammen und streckte die Hand nach dem Gerät aus. Seine Finger tasteten über lackiertes Metall, folgten dem Verlauf der Kante und fanden das Netzkabel. Es tat weh. Er konnte das Kabel nicht richtig fassen, weil sich die Nadel zwischen Zeige-und Mittelfinger bei jeder Bewegung tiefer in sein Fleisch bohrte, so daß er es schließlich zwischen Ring– und kleinem Finger einklemmte, um es aus der Steckdose zu ziehen. Es gelang ihm erst beim dritten oder vierten Versuch, und hinterher standen ihm Tränen in den Augen, aber er hatte Erfolg, und der wurde zumindest nicht unmittelbar geahndet.
Brenner setzte sich auf, schwang die Beine aus dem Bett und ließ weitere zwei, drei Minuten verstreichen, ehe er den nächsten und entscheidenden Teil seiner Revolution in Angriff nahm. Nicht nur, weil er den Schmerz fürchtete. Die Nadel aus seiner Hand zu ziehen würde eine ekelhafte Angelegenheit werden, aber weit bedeutsamer als der Schmerz war das, was diese Handlung signalisierte. Wenn er Schneider oder der Schwester das nächste Mal gegenüberstand, konnte er sich nicht mehr auf ein Versehen hinausreden, sondern würde zu seinem Aufbegehren stehen müssen.
Der Schmerz war viel schlimmer als erwartet. Seine Hand blutete heftig, und er spürte die Nadel noch lange, nachdem er sie längst zu Boden geworfen hatte.
Die nächste Etappe war weit weniger schmerzhaft, aber sehr viel mühsamer. Brenner tastete sich, halb blind und noch immer benommen, zum Schrank und versuchte seine Kleider anzuziehen, aber diesmal blieb es bei dem Versuch. Seine Kräfte reichten aus, die Schranktür zu öffnen, aber nicht mehr, um die Kleider vom Bügel zu nehmen. Und ihm blieb keine Zeit mehr, Energien für einen zweiten Anlauf zu sammeln. Die Tür ging auf, und jemand betrat das Zimmer.
Brenner drehte sich mühsam herum und versuchte den grauen Nebel vor seinen Augen zu durchdringen. Sein Sehvermögen schien nicht nur auf das Maß von gestern nacht zurückgefallen zu sein, sondern hatte sich radikal verschlechtert. Er sah nur, daß jemand unter derTür stand, nicht einmal, wer. »Brenner?«
Es war eine fremde Stimme, nicht der Arzt, die Schwester oder ein anderer Angestellter des Krankenhauses. Im allerersten Moment dachte er, es wäre vielleicht Johannes, der zurückgekehrt war.
»Sie sind Brenner, richtig?«
Es war nicht Johannes. Die Stimme sprach akzentfrei, aber man spürte trotzdem, daß ihr Besitzer nicht in seiner Muttersprache redete.
»Wer ist da?« fragte Brenner. »Was … wollen Sie?«
Die Gestalt kam näher. Es war ein Fremder. Er trug keine Krankenhauskleidung, sondern einen altmodischen Bademantel aus blauem Frotteestoff, der ihm noch dazu zu klein war, und sein Gesicht bewies das, was seine Stimme vermuten ließ. Soweit Brenner dies mit seinem eingeschränkten Gesichtssinn erkennen konnte, hatte es einen dunklen Teint und südländischen, vielleicht arabischen Schnitt. Etwas an dieser Erkenntnis erschien Brenner ungemein wichtig, aber er konnte noch nicht sagen, was. Nur, daß es kein gutes Wissen war.