Выбрать главу

»Sie sind Brenner.« Der Mann im blauen Morgenmantel trat weiter auf ihn zu und ergriff Brenner so energisch am Ellbogen, daß es weh tat. »Wie geht es Ihnen? Können Sie laufen?« Brenner versuchte seinen Arm loszureißen, aber es blieb bei dem Versuch, obwohl der Fremde seinen Griff nicht verstärkte. Vielmehr schien er Brenners Gegenwehr nicht einmal zu bemerken.

»Was wollen Sie?« fragte Brenner. Plötzlich hatte er Angst. Und ebenso plötzlich wußte er, wem er gegenüberstand.

»Sie … Sie sind dieserTerrorist!« keuchte er. »Großer Gott, Sie sind dieser Salim! Sie haben das Kloster in die Luft gesprengt! Was wollen Sie von mir?«

»Mein Name ist Salid«, antwortete der andere. Er gab sichMühe, seine Überraschung zu verbergen, aber Brenner spürte genau, daß er auf gar keinen Fall darauf vorbereitet gewesen war, von Brenner erkannt zu werden. »Ich kann es Ihnen jetzt nicht erklären, aber ich beschwöre Sie, mir zu vertrauen. Ich bin nicht hier, weil ich Ihnen etwas antun will.«

Brenner wunderte sich ein wenig, daß er nicht in Panik geriet oder vor Angst einfach wie gelähmt war – immerhin stand er einem leibhaftigenTerroristen gegenüber, einem Mann, dessen Beruf es war, Menschen zu töten. Aber vielleicht war das, was er spürte, ja Panik. Seine Stimme klang jedenfalls ganz danach, als er antwortete.

»Was wollen Sie von mir? Weshalb sind Sie hier?«

»Ich will Sie hier herausholen, Brenner«, antwortete Salid. Er ließ endlich Brenners Arm los. »Ich weiß, daß es sich phantastisch anhört, aber Sie sind hier nicht als normaler Patient. Man hält Sie hier gefangen.« Er schwieg eine oder zwei Sekunden, in denen er Brenner abermals und mit veränderter Aufmerksamkeit musterte. Seine nächsten Worte bewiesen Brenner, über welch scharfe Beobachtungsgabe der Palästinenser verfügte. »Aber ich glaube beinahe, das haben Sie selbst schon gemerkt. Ich schaffe Sie hier raus.«

»Wozu?« fragte Brenner. »Um mich umzubringen?«

»Wenn ich das wollte, wären Sie bereits tot«, antwortete Salid auf so rasche und beiläufige Weise, daß die Worte viel mehr Gewicht bekamen, als jede Drohung ihnen geben konnte. »Ich fürchte, Sie werden im Gegenteil nicht mehr lange leben, wenn Sie hierbleiben. Keiner von uns, möglicherweise.«

»Sie sind verrückt, wenn Sie glauben, daß ich mit Ihnen gehe!« Brenner versuchte einen Schritt zurückzuweichen und wäre beinahe gestürzt.

»Ich könnte Sie zwingen«, antwortete Salid. »Und ich werde es tun, wenn es sein muß – aber es wäre besser, wenn ich das nicht müßte. Es würde die Sache vereinfachen, wissen Sie. Für uns beide.«

Kein Zweifel, er war in Panik. Daß er sich so ruhig fühlte und gar keine Angst zu haben schien, war nur das, was er glaubte. Seine ganz persönliche Art des Verdrängens.

»Ich werde schreien.«

»Und wer sollte Sie hören?« Salid machte eine wedelnde Handbewegung. »Wahrscheinlich wissen Sie es nicht, aber Sie sind der einzige Patient auf dieser gesamten Etage. Außerdem«, Salids Stimme wurde eine Spur schärfer, »selbst Sie sollten allmählich kapiert haben, daß hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht! Was ist mit Ihren Augen?«

»Was soll damit sein? Sie sind in Ordnung.« »Sind sie nicht. Sie können kaum sehen.« »Woher – ?«

»Man sieht es Ihnen an«, unterbrach ihn Salid. Er schaute auf die Armbanduhr, ehe er weitersprach. »Eine Folge des Unfalles?«

Unfall?! Eine sonderbare Bezeichnung für Massenmord, dachte Brenner. »ja«, antwortete er. »Oder … nein. Vielleicht. Ich bin nicht sicher.«

»Auf jeden Fall kommen Sie halb blind kaum aus eigener Kraft hier raus«, sagte Salid. »Und das wollen Sie doch, oder etwa nicht?«

»Aber nicht mit Ihnen.« Brenner versuchte, seine Stimme so sicher und herausfordernd wie nur möglich klingen zu lassen, aber er spürte selbst, daß es sich allerhöchstens trotzig anhörte. »Wenn Sie mich mitnehmen wollen, müssen Sie mich schon niederschlagen. «

»Ganz wie Sie wollen«, seufzte Salid.

Brenner wappnete sich gegen den Hieb, der jetzt folgen würde. Er betete, daß wenigstens die Hälfte von dem stimmte, was er aus einschlägigen Filmen kannte: nämlich daß er sofort das Bewußtsein verlor und es schnell ging.

Aber Salid schlug ihn nicht nieder. Statt dessen sagte er: »Ich weiß, wo das Mädchen ist.«

Professor Schneider sah auf die Uhr, schüttelte den Ärmel seines weißen Krankenhauskittels wieder herunter und trat mit einer entschlossenen Bewegung in den Aufzug. Fünfzehn Minuten, wenn er die Zeit mitrechnete, die er bei Brenner verbracht hatte. Das sollte Alexander ausreichen, ihrem ungebetenen Besucher alles zu sagen, was er ihm zu sagen hatte. Für Schneider jedenfalls hatte diese Frist gereicht, um zu einem Entschluß zu gelangen. Er würde diese Farce beenden. Heute noch.

Er drückte den Aufzugknopf und wartete voller Ungeduld darauf, daß sich die Türen schlossen und die Kabine losfuhr. Er war nicht sofort zurück in sein Büro gegangen, sondern noch einmal hinunter ins Erdgeschoß gefahren – wie er sich selbst eingeredet hatte, um noch einmal mit dem Pförtner zu sprechen und sich davon zu überzeugen, daß alles in Ordnung war, in Wahrheit aber aus einem ganz anderen Grund. Nämlich dem, eine Zigarette zu rauchen. In der gesamten Klinik herrschte strengstes Rauchverbot – an das sich nicht einmal seine eigene Oberschwester hielt – , und Schneider hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, ein-oder zweimal pro Nacht nach draußen zu gehen, um seinem Laster zu frönen. Die Zigarettehatte nicht geschmeckt, und die bittere Kälte hatte ein Übriges dazu getan, ihn rasch wieder nach drinnen zu treiben, und trotzdem war er in der kurzen Atempause zu einem Entschluß gekommen, der vielleicht sein gesamtes weiteres Leben verändern würde.

Er würde jetzt nach oben fahren und von diesem Alexander verlangen, daß er ihm reinen Wein einschenkte. Und diesmal würde er keinen Widerspruch dulden und auch keine Ausflüchte akzeptieren, ganz egal, von welcher Seite aus man ihn unter Druck setzte. Man muß Gott – und seinem Gewissen mehr gehorchen als den Menschen, sagte er sich. Oder war es nur, weil er sich wegen seiner Machtlosigkeit in diesem schäbigen Spiel verabscheute?

Der Aufzug hielt an. Schneider quetschte sich schräg durch die Türen, die plötzlich mit quälender Langsamkeit auseinanderzugleiten schienen, wandte sich rasch nach links und zog seinen Schlüsselbund aus derTasche, während er mit weit ausgreifenden Schritten den Korridor entlangeilte. Er rannte fast. Schneider kannte sich selbst zu gut, um nicht zu wissen, daß jetzt jede Sekunde wichtig war. Er war jetzt wild entschlossen, Alexander zu zwingen, endlich Farbe zu bekennen. Zeit zu vergeuden bedeutete in diesem Fall, Zeit zum Nachdenken zu haben. Nachdenken darüber, welche Folgen sein Entschluß haben konnte. Folgen für ihn, für die Klinik, vielleicht für Brenner.

Er öffnete die Zwischentür, die zu dem Bereich der Klinik gehörte, den er vor drei Tagen – nach einem kurzen, aber äußerst hitzigen Telefongespräch – komplett hatte räumen lassen, ließ sie hinter sich wieder ins Schloß fallen und legte sich in Gedanken noch einmal ganz genau die Worte zurecht, mit denen er das Gespräch eröffnen würde. Sie waren wichtig, vielleicht entscheidend. Alexander war ein meisterhafter Rhetoriker. Aus allen Rededuellen, die sich Schneider bisher mit ihm geliefert hatte, war der Geistliche bisher stets als Sieger hervorgegangen. Wenn er den Anfang verpatzte, konnte er sich den Rest mit ziemlicher Sicherheit sparen.

Schneider öffnete die Tür zum Vorzimmer, trat mit einem energischen Schritt hindurch

– und blieb wie angewurzelt wieder stehen.

Das Bild, das sich ihm bot, war so bizarr, daß es ihm im allerersten Moment schwerfiel, es als Wirklichkeit zu akzeptieren. Sein Vorzimmer hatte sich in die Kulisse eines amerikanischen Action-Krimis verwandelt.