Alexander und Johannes befanden sich nicht mehr in seinem Büro, wo er sie zurückgelassen hatte. Johannes kniete in einer fast grotesken Haltung am Boden, die rechte Hand um ein kleines Goldkreuz gekrampft, das er bisher offenbar an einer dünnen Goldkette um den Hals getragen hatte, die linke, zur Faust geballt, gegen den Mund gepreßt, und Alexander lag vor ihm auf dem Rücken. Seine Augen starrten weit geöffnet und leer gegen die Decke, und sein Kopf war so weit zur Seite gebogen, daß Schneider keine vierzehn Semester Medizinstudium benötigt hätte, um zu wissen, daß sein Genick gebrochen war. Eine zweite, reglose Gestalt lag unmittelbar neben derTür am Boden. Schwester Marianne.
Schneider überwand endlich seinen Schrecken und erinnerte sich wieder daran, daß er Arzt war. Rasch ließ er sich neben der reglos daliegenden Schwester auf die Knie sinken und beugte sich über sie.
» Er … er hat ihn umgebracht«, stammelte Johannes. »Er hat ihn einfach … umgebracht! «
»Wer?« fragte Schneider. Seine Finger glitten über Mariannes Halsschlagader und tasteten nach dem Puls. Er war schwach, aber regelmäßig und fühlbar. Sie lebte. Gott sei Dank, sie lebte.
»Er hat ihn einfach umgebracht«, stammelte Johannes wieder. »Es ging so schnell. Ich … ich konnte nichts tun! Er hat ihn einfach getötet! Einfach so, als … als wäre es nichts.«
Behutsam hob Schneider Mariannes Augenlider an, begutachtete ihre Pupillen und tastete anschließend ihren Schädel nach Verletzungen ab, konnte aber außer einer Beule am Hinterkopf nichts feststellen. Nicht, daß ihn das beruhigte; die schlimmsten Verletzungen waren häufig die, die man nicht sofort sah. Aber zumindest war ihr Schädel nicht gebrochen. Schneider stand rasch auf, ging die wenigen Schritte zu Alexander hinüber und ließ sich abermals auf die Knie sinken. Es war überflüssig, ihn zu untersuchen, aber er tat es trotzdem. Allerdings änderte es nichts. Der alte Mann, der ihn so das Fürchten gelehrt hatte, war tot. Mit einem Ruck hob Schneider den Kopf und sah Johannes an.
Das Gesicht des jüngeren war erstarrt, und es hatte die Farbe von Recycling-Papier angenommen. Sein Blick war wie gebannt auf Alexanders gebrochene Augen gerichtet.
»Was ist passiert?« fragte Schneider.
»Er hat ihn getötet«, stammelte Johannes. »Einfach so. Völlig grundlos und – «
»Wer?« unterbrach ihn Schneider. Als Johannes nicht gleich antwortete, packte er ihn bei den Schultern und schüttelte ihn so heftig, daß seine Zähne aufeinanderschlugen. »Wer?«
»Ein… ein Mann«, antwortete Johannes stockend. Obwohl Schneider ihn immer noch schüttelte, starrte er immer noch auf Alexander herab.
»Ein Mann? Was für ein Mann? Was ist passiert?« Schneider kam nicht einmal für eine Sekunde die Idee, daß Johannes für das verantwortlich sein könnte, was er sah. Er kannte diesen jungen Mann nicht – wenngleich er wohl nun dieTatsache akzeptieren mußte, daß dieser wirklich ein Geistlicher war. Doch wenn er eines ganz bestimmt nicht war, dann ein gewissenloser Mörder.
»Ich … ich weiß nicht«, antwortete Johannes stockend. »Er war ganz plötzlich da und … und hat ihn getötet. Aber warum? Jesus Christus, ich … ich verstehe einfach nicht, warum er es getan hat. «
Schneider begann zu ahnen, daß er wahrscheinlich keine konkrete Antwort bekommen würde. Was immer hier auch wirklich geschehen war, hatte den jungen Priester vollkommen aus der Bahn geworfen. Aber eines mußte er noch wissen, denn es war vielleicht lebenswichtig.
»Ist er noch hier?«
Eine halbe Sekunde lang hatte er fast Angst, Johannes könnte nicken und auf die Tür zum Nebenzimmer deuten, aber als er dann eine Antwort bekam, überraschte sie ihn trotzdem kaum.
»Er… er wollte zu Brenner.«
Brenner. Es war fast, als hätte er genau das erwartet. Es ergab keinen Sinn, weil ihm einfach zu viele Informationen fehlten, und trotzdem paßte es ins Bild.
Schneider stand auf, ging zum Schreibtisch und hob den Telefonhörer ab, um die Nummer der Polizei zu wählen.
Der Sturm hatte ihn wieder ausgespien, aber während er durch das tobende weiße Crescendo stapfte, war Weichster felsenfest davon überzeugt, daß dieses heulende Chaos ringsum das unwiderruflich Letzte sein würde, was er in seinem Leben hörte und sah. Er fürchtete sich nicht davor. Der Tod war eine Erlösung gegen das, was er dort drinnen in der Turnhalle gesehen hatte. Und wahrscheinlich würde es schnell gehen – Erfrieren sollte ja ein angenehmerTod sein, und dieTemperaturen waren so weit gefallen, daß sein Atem zu Eis zu werden schien, noch ehe er über seine Lippen kam. Der Wind schnitt durch seine Jacke, als wäre sie gar nicht da, undder brüllende Sturm tat ein Übriges, um auch noch das letzte Gefühl aus seinem Körper herauszuprügeln. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft gehabt, seine Waffe zu halten, und sie irgendwo auf halbem Wege weggeworfen.
Aber er starb nicht. Das Schicksal war nicht so gnädig mit ihm. Der Sturm beutelte ihn eine Weile, doch er brachte ihn nicht um, sondern ließ ihn am Ende frei. Vor ihm war plötzlich Licht, und das Heulen des Sturmes war nicht mehr das einzige Geräusch, das er hörte. Er hatte den Hof überquert; vor ihm lag das Schulgebäude, in dessen Erdgeschoß sich die provisorische Kommandoleitstelle befand. Und nicht nur das: Vor ihm hörte der Sturm wie abgeschnitten auf, und Weichster bot sich ein Anblick von geradezu absurder Friedfertigkeit. Durch die großen, sprossenlos verglasten Fenster fiel weißes Neonlicht heraus, das trotz seines kalten Tones Sicherheit und Wärme zu versprechen schien. Die Welt dahinter unterschied sich radikal von der weißen Hölle, die ihn verschlungen und wieder ausgespuckt hatte: An den Wänden hingen bunte Kindergemälde, Poster und große Blätter mit einzelnen Druckbuchstaben, und an den Fenstern selbst ungelenke Collagen aus Transparentpapier, welche bunte Lichtsplitter in die trapezförmigen Flecken zauberten, die das Neonlicht auf den Schulhof warf. Die Gestalten, die sich hinter den Scheiben bewegten, paßten in ihren gefleckten Tarnanzügen ebensowenig zu der Umgebung wie das klobige Funkgerät auf dem Lehrerpult und die Generalstabskarte, welche die Schiefertafel verdeckte, aber nichts davon vermochte den friedfertigen Eindruck wirklich zu zerstören, den das Bild vermittelte.
Vielleicht wäre surrealistisch das passendere Wort gewesen. Weichsler war nicht mehr in einem Zustand, alles, was er sah, bewußt zu verarbeiten, aber etwas in ihm registrierte das Alptraumhafte der Szenerie sehr wohl, und es steigerte seine Furcht noch: Dieser Sturm war kein normaler Sturm. Schnee und Eis wüteten mit unvorstellbarer Gewalt, aber sie tobten nur auf einem winzigen, streng abgegrenzten Areal. Weichsler konnte den Himmel über sich jetzt wieder sehen. Er war so klar wie die Nacht auf der anderen Seite des Schulgebäudes. Der Sturm schien sich nur auf den Bereich unmittelbar vor derTurnhalle zu konzentrieren. Selbst sein Heulen war kaum noch zu hören. Dafür konnte er die Stimmen seiner Kameraden verstehen. Sie redeten über Belanglosigkeiten und lachten. Keiner von ihnen hatte auch nur bemerkt, was hier draußen vorging.
Weichsler taumelte das halbe Dutzend Stufen hinauf, das zur Tür führte, aber er schaffte es nicht, die schweren Eichenflügel zu öffnen. Die Kälte hatte seine Finger zu Krallen werden lassen, die zu nichts mehr gut waren als dazu, weh zu tun. Weichsler sank erschöpft gegen die Tür und sah in den Sturm zurück. Das weiße Chaos tobte mit ungebrochener Heftigkeit weiter. Seine Wut schien sogar noch zugenommen zu haben. Aber im Inneren des weißen Blizzard war noch etwas. Was er für den Tanz sturmgepeitschter Eiskristalle oder den Anblick reiner Bewegung gehalten hatte, besaß Substanz. Der Horror war nicht in derTurnhalle zurückgeblieben, sondern folgte ihm. Sie folgten ihm, und Weichsler wußte, daß er ihnen nicht entkommen würde. Er hatte einen Teil jener anderen, dunklen Facette der Welt berührt, die den Toten gehörte, und nun kamen sie, um sich zu holen, was ihnen zustand. Trotzdem gab er nicht auf. Keine Angst vor dem Tod zu haben hieß nicht, das Sterben nicht zu fürchten.