Seine Hände gehorchten ihm immer noch nicht, so daß er den schweren Messingtürgriff ungeschickt mit dem Ellbogen herunterdrückte, während er gleichzeitig dieTür mit der Schulter aufschob. Zu seiner eigenen Überraschung gelang es ihm auf Anhieb. Er taumelte hindurch, wandte sich nach links und stolperte an einem halben Hundert gefleckter Parkas vorüber, die an Kleiderhaken in Erstkläßler-Höhe aufgehängt waren.
Der Bereitschaftsraum befand sich gleich hinter der ersten Tür. Mit Ausnahme der beiden Wachoffiziere befanden sich noch drei weitere Soldaten hier: Zwei lümmelten neben der Kaffeemaschine und unterhielten sich leise, der dritte versuchte gerade, in den linken Ärmel seines Parkas zu schlüpfen; den anderen hatte er bereits an, und absurderweise hatte er auch schon das Gewehr über die rechte Schulter gehängt: Weichslers Ablösung, die sich bereitmachte, ihre Schicht zu übernehmen.
Die Gespräche im Raum verstummten abrupt, als Weichsler hereintaumelte. Einer der Männer an der Kaffeemaschine verschluckte sich an seinem Getränk und ließ beinahe seinen Plastikbecher fallen, der andere grinste weiter, aber es sah mit einem Male eher aus wie eine Grimasse. Weichslers Ablösung erstarrte mitten in der Bewegung zu einer grotesken Statue. Nur der jüngere der beiden Wachoffiziere reagierte so, wie es seine Vorgesetzten von ihm erwartet hätten. Er verschwendete keine Zeit damit, zu erschrecken oder Weichsler anzustarren, sondern sprang von seinem Platz hoch und sorgte gleichzeitig mit einer entsprechenden Handbewegung für Ruhe.
»Weichsler! Was ist passiert?«
Weichslers erster Versuch, zu antworten, scheiterte kläglich. Die Kälte hatte seine Lippen taub werden lassen, und sein Herz hämmerte so heftig gegen seine Lungen, daß er kaum Luft bekam. »… Zeit«, stammelte er. »Sie … kommen! «
»He, he! Ich weiß, daß ich zu spät dran bin, aber das ist doch kein Grund, gleich in Panik zu geraten! « Weichslers Ablösung versuchte die Spannung mit einem schalen Witz zu lösen, aber niemand lachte. Mit Ausnahme des Wachoffiziers, der die Bemerkung mit einem wütenden Blick ahndete, schien niemand die Worte auch nur zur Kenntnis zu nehmen.
»Also, Weichsler – was ist los? Atmen Sie tief durch, und dann erzählen Sie.«
Weichslers Blick ging zum Fenster, während er dem Rat tatsächlich folgte und die Lungen fast bis zum Bersten mit Luft vollsog. Es war absurd, aber von hier aus betrachtet wirkte der Sturm vollkommen harmlos. Nicht einmal wirklich wie ein Sturm. Aus dem Heulen tausend losgelassener Höllenhunde war ein fernes Brausen geworden, und der Blizzard hatte sich in ein fast ästhetisch anzuschauendes Schneegestöber verwandelt. Irgend etwas kam näher.
»Also?«
»Die … die Toten«, stieß Weichsler atemlos hervor. »Sie … sie sind … aufgewacht.« Das letzte Wort stieß er so atemlos hervor, daß es allein dadurch den letzten Rest von Glaubwürdigkeit verloren hätte.
Allerdings lachte niemand.
»Wie bitte?« Der Wachoffizier riß ungläubig die Augen auf. »Was soll das heißen? Was zum Teufel wollen Sie damit sagen? Reden Sie schon, Mann!«
»Sie sind aufgewacht! « wiederholte Weichsler. Er war nur noch eine halbe Oktave davon entfernt, zu schreien. »Wir müssen weg! Sie kommen! Versteht ihr denn nicht?«
Natürlich verstand keiner, was er meinte – und wie auch? Aber er hatte einfach keine Zeit für Erklärungen. DieToten waren ihm gefolgt, und sie waren bereits nahe, das spürte er. Ganz nahe.
Ein dumpfes Klatschen erscholl, und für einen Moment wandte sich aller Aufmerksamkeit dem Soldaten neben der Kaffeemaschine zu. Er hatte seinen Becher endgültig fallen lassen und stand in einer Pfütze aus dampfendem braunen Kaffee. Sein Gesicht verlor von einer Sekunde zur anderen jede Farbe. »Großer Gott! Sein … sein Bein! Was ist das?! «
Weichsler sah an sich herab und erinnerte sich plötzlich wieder an das Gefühl von nachgebendem Widerstand, als er seinen Fuß losgerissen hatte. Genaugenommen hatte er seinen Fuß nicht aus dem Griff befreit. Sein rechter Knöchel wurde von einer grauen Hand umklammert, die dicht über dem Gelenk abgerissen war.
Weichslers Ablösung stieß einen würgenden Laut aus, schlug die Hand vor den Mund und wandte sich mit einem Ruck ab, und der zweite Soldat reagierte eine Sekunde später, dafür aber so heftig, daß er fast die Kaffeemaschine vom Tisch gestoßen hätte. Selbst der Wachoffizier, der bisher die Nerven behalten hatte, verlor für einen Moment die Kontrolle: Er prallte mit einem erstickten Keuchen zurück und stieß gegen seinen Kollegen, der hinter ihm erschrocken aufgesprungen war. »Mein Gott, Weichsler, was … was haben Sie gemacht?« krächzte er.
Weichsler kam nie dazu, zu antworten. Etwas wurde aus dem Schneegestöber herauskatapultiert und zertrümmerte das Fenster, und mit dem Glas zerbrach auch der zweite, unsichtbare Schutz, den es bisher gegeben hatte. Mit einem Male war der Sturm da, und mit ihm heulten Kälte, Eis und ein Regen rasiermesserscharfer Glassplitter herein. Die überraschten Schreie der Männer gingen in einem urgewaltigen Brüllen unter, das nichts Wirkliches mehr hatte: der Schrei eines mythischen Drachen, nicht das Geräusch eines Schneesturmes. Der Blizzard hatte die Distanz zum Haus mit einem Satz übersprungen und war nun hier drinnen.
Und seine Bewohner folgten ihm.
Etwas, das fast so weiß war wie der Schnee, tauchte in dem weißen Durcheinander auf, aber Weichsler war der einzige, der es wirklich erkannte: Die Grimasse warTeil des Sturmes, der sie umgab, und der Blizzard vielleicht nur Ausdruck des Zorns, der sie beseelte. Vielleicht war sie auch gar nicht real.
Aber real waren die Hände, die sich plötzlich um den Rahmen schlossen. Weichsler beobachtete voller Entsetzen, wie sich ein fingerlanger, nadelspitzer Glassplitter durch eine der Hände bohrte und abbrach. Doch die Kreatur, zu der diese Hand gehörte, spürte keinen Schmerz mehr. Langsam und mit Bewegungen, die sonderbar ziellos wirkten, ohne es zu sein, begann sie sich am Fensterrahmen in die Höhe und in den
Klassenraum hinein zu ziehen. Hinter ihr bewegten sich weitere, verschwommene Schemen durch den Sturm.
Das Heulen des Orkans war längst nicht mehr das einzige Geräusch hier drinnen, aber es verschlang jeden anderen Laut. Weichsler sah, wie sich die Lippen der Männer zu gellenden Schreien öffneten, aber er hörte sie nicht. Die beiden Soldaten und auch der Mann, der ihn hatte ablösen sollen, rannten einfach in wilder Panik durcheinander, aber der Wachoffizier behielt auch jetzt noch die Nerven. Vielleicht war es auch nur ein Reflex. Der Grund spielte keine Rolle – er war der einzige, der überhaupt etwas tat: den linken Arm schützend vor das Gesicht gerissen und schräg gegen den Sturm gelehnt, lief er zum Fenster und versetzte der hereinkrabbelnden Gestalt einen Tritt, der sie wieder nach draußen beförderte. Sein Fuß schien jedoch auf weniger Widerstand zu treffen, als er erwartet hatte. Er verlor die Balance, stolperte gegen den Fensterrahmen und wäre beinahe hinausgestürzt, hätte er sich nicht im letzten Moment festgeklammert. Seine Hand blutete, als er sie wieder zurückzog. Der Fensterrahmen war gespickt mit Glasscherben.
»Weichsler! Was bedeutet das?« schrie er. »Was geht hier vor?«
Der Sturm verschlang seine Worte, aber Weichsler las sie von seinen Lippen. Er hätte geantwortet, aber er kam nicht dazu. Plötzlich spie der Sturm weitere Gestalten aus, und diesmal nicht nur eine, sondern drei, fünf, acht … das zerborstene Fenster war plötzlich voller Gesichter und leerer, flehender Augen, voller Arme und Hände, die sich zitternd nach dem Offizier ausstreckten.
Sie waren nicht einmal besonders schnell. Er hätte ihnen ohne große Mühe ausweichen können, aber diesmal ließen ihn seine Reaktionen im Stich. Er stand einfach da und starrte wie gelähmt aus dem Fenster, und dann war es zu spät. Ein Dutzend Hände gleichzeitig tastete nach ihm, Finger krallten sich in seine Arme, hielten seine Hände oder schlossen sich um seinen Hals. Im allerletzten Moment erwachte er aus seiner Lähmung und warf sich zurück. Zwei, drei Hände verloren ihren Halt, aber sofort griffen andere Arme aus dem Sturm heraus. Finger tasteten über das Gesicht des Soldaten, strichen über seinen Mund, die Augen und Schläfen.