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Aber etwas an diesem Bild war nicht richtig. Natürlich war nichts an ihm richtig – es war kein Anblick, den ein lebender Mensch jemals zuvor gesehen hätte; trotzdem war er nicht neu: Hunderte von Horrorfilm-Regisseuren hatten ihn in Szene gesetzt, Millionen von Menschen in der einen oder anderen Form gesehen, und doch wirkte er auf beunruhigende Weise falsch. Er entsprach nicht dem Klischee, das dem Gedanken an wandelnde Tote anhaftete, die über die Lebenden herfielen. Etwas … fehlte.

Bevor Weichsler den Gedanken weiter verfolgen konnte, mischte sich ein peitschender Knall in das Heulen des Sturmes. Eine der Gestalten draußen vor dem Fenster wurde zurückgeschleudert und verschwand im Sturm. Sofort nahm eine andere ihren Platz ein, und der Wachoffizier wurde weiter nach draußen gezerrt. Kopf und Oberkörper waren bereits in der Mauer aus Gesichtern und Armen verschwunden, aber seine blutenden Hände klammerten sich noch immer mit verzweifelter Kraft an den Fensterrahmen. Er lebte noch.

Und er würde auch nicht sterben. Es war nicht derTod, den diese wandelnden Leichname von ihm wollten; so wenig, wie sie Weichslers Tod hatten haben wollen. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitzschlag. Plötzlich wußte er, was das stumme Flehen bedeutete, das er in den gebrochenen Augen gelesen hatte. »Nein! « keuchte er. »Nicht! Hört auf zu schießen! «

Das letzte Wort ging im Krachen eines weiteren Schusses unter. Verzweifelt fuhr er herum und versuchte dem Mann neben sich die Waffe zu entreißen. Der Soldat stieß ihn so wuchtig vor die Brust, daß Weichsler zurück-und wieder auf den Flur hinaustaumelte, ehe er sein Gleichgewicht wiederfand. Noch in der gleichen Bewegung hob der Soldat seine Waffe wieder und schaltete von Einzel-auf Dauerfeuer um.

»Nein!« kreischte Weichsler. »Schießt nicht! Sie wollen doch nur Hilfe! «

Das abgehackte Stakkato eines Feuerstoßes übertönte das Heulen des Sturmes. Aus dem Fensterrahmen explodierten Holzsplitter und Kalk, zwei oder drei der toten Gestalten wurden regelrecht zerfetzt, und auf Rücken, Nierenpartie und Oberschenkel des Wachoffizieres erschien eine verwackelte Perlenschnur aus dunkelroten, rasch ineinanderfließenden Flecken.

Weichsler stürzte mit einem Schrei vor und versuchte, dem Mann die Waffe zu entreißen. Es gelang ihm auch diesmal nicht, aber zumindest konnte er seinen Arm herunterdrücken, so daß er den Rest seines Magazins in den Boden verschoß. »Verdammt noch mal, bist du verrückt geworden?! «

Ein Faustschlag traf Weichslers Kiefer. Er spürte, wie seine Unterlippe aufplatzte und sich einer seiner Zähne lockerte, aber er ließ nicht los, sondern klammerte sich im Gegenteil nur noch fester an das Gewehr, um es seinem Besitzer zu entreißen.

Doch selbst wenn seine Kraft ausgereicht hätte, er hätte die Katastrophe nicht mehr aufhalten können. Auch die drei anderen Männer hatten mittlerweile ihre Gewehre gehoben und feuerten in den Sturm hinaus. Weichsler sah schattenhafte Gestalten taumeln und stürzen, andere wurden regelrecht zerfetzt oder taumelten mit abgerissenen Gliedmaßen weiter, bis sie erneut getroffen und niedergeworfen wurden.

Der Soldat, mit dem Weichsler kämpfte, ließ plötzlich seine Waffe los. Weichsler fiel ungeschickt auf die Knie, und der Mann nutzte die Zeit, um ihm die geballte Faust gegen die Schläfe zu schmettern.

Er verlor nicht das Bewußtsein, aber er fiel hilflos zur Seite und war für einige Sekunden unfähig, sich zu bewegen. Als er die Kontrolle über seinen Körper halbwegs zurück hatte, waren die Magazine der MPis leergeschossen. Der Sturm heulte weiter durch die zerborstenen Fenster, aber alles, was jetzt mit ihm hereinkam, waren Kälte und wirbelnde Eiskristalle. Der Leichnam des jungen Wachoffiziers, von der MPi-Salve beinahe in zwei Teile zerschnitten, hing reglos über der Fensterbrüstung. Weichsler versuchte stöhnend in die Höhe zu kommen und fiel wieder hin, als ihm der Soldat in die Seite trat, dem er die Waffe entrissen hatte. Er spürte den Schmerz kaum. Was mit ihm geschah, war vollkommen gleich. Begriffen sie denn nicht, was sie getan hatten?

Er sah aus den Augenwinkeln, wie der Soldat zu einem weiteren Tritt ausholte, im letzten Moment aber von einem anderen zurückgehalten wurde.

»Laß den Blödsinn! Wir müssen Alarm geben! Wer weiß, wie viele noch da draußen sind!«

Weichsler wußte es. Etwas mehr als dreihundert. Abzüglich vielleicht derer, die er erschossen hatte. Aber er konnte nichts sagen. Seine Stimme versagte ihm den Dienst, ebenso wie seine Arme und Beine, als er sich abermals hochzustemmen versuchte. Er spürte, wie die Bewußtlosigkeit zurückkam, und diesmal reichte seine Kraft nicht mehr aus, sich dagegen zu wehren.

Der Fernseher lief immer noch, als sie am Wachzimmer vorbeikamen, aber er brachte jetzt keine Katastrophenmeldungen mehr, sondern einen Spot, in dem für Telefonsex mit den Kaiman-Inseln oder sonst einer teuren Doppelnull-Vorwahl geworben wurde. Das Zimmer war auch immer noch leer, und Brenner registrierte all dies, obwohl er weder das Bild sehen, noch von dem Raum hinter der Scheibe viel mehr als diffuse Umrisse erkennen konnte. Trotz seines allmählich zurückkehrenden Augenlichts funktionierte sein Gehör noch immer mit der gleichen ungewohnten Präzision der vergangenenTage, was ihn ein wenig verblüffte; er hatte ganz instinktiv erwartet, daß diese geliehene Schärfe ebenso schnell wieder verschwinden würde, wie sie gekommen war. Vielleicht war es ja gar nicht so, wie er bisher immer angenommen hatte ohne diesen Gedanken bewußt zu formulieren, aber trotzdem mit ganz selbstverständlicher Sicherheit – daß es ein gewisses Quantum an Wahrnehmungen gab, das auf alle Sinne gleichmäßig verteilt war und sich nur verschob, wenn einer davon ausfiel, sondern vielmehr so, daß das menschliche Nervensystem noch über gewaltige Reserven verfügte, die es beinahe nach Belieben einsetzen konnte. Das wäre doch eine sinnvolle Aufgabe für Leute wie Schneider und seine Kollegen, dachte er: diese Reserven ausfindig zu machen und einzusetzen. Immerhin sinnvoller als die, gesunde Sinne lahmzulegen.

Was für eine wichtige Erkenntnis. Und in seiner momentanen Situation so ungemein hilfreich.

Brenner war sich der Tatsache vollkommen bewußt, daß er kurz davor stand, einfach hysterisch loszuschreien. Er hatte Salid nicht mehr widersprochen und sich auch nicht widersetzt, als dieser nach kurzer Durchsuchung der leeren Krankenz immer begonnen hatte, wahllos Kleider aus einem Schrank zu zerren – offensichtlich war die Station so übereilt geräumt worden, daß man nicht einmal alle Habseligkeiten der Patienten mitgenommen hatte – und an ihn zu verteilen. Zum erstenmal seitTagen trug er wieder richtige Kleider, keinen Krankenhauspyjama, der Rücken und Hintern Zugluft und hämischen Blicken preisgab, und allein dafür war er dem Araber dankbar. Auch Salid hatte sich ein Jackett ausgeborgt, anstelle seines blauen Morgenmantels. Brenner konnte es nicht deutlich erkennen, vermutete aber, daß derTerrorist dennTerroristen waren nach landläufiger Vorstellung immer groß und breitschultrig – eine einigermaßen lächerliche Figur machen mußte, und während sie das Zimmer verließen und den Gang hinuntereilten, versuchte er mit aller Energie, wenigstens etwas davon zu sehen. Kneifende Falten, zu kurze Jackenärmel … er konnte nichts davon erkennen, aber in seinem Zustand bedeutete das nicht, daß es nicht da war.

Außerdem war es ungefähr ebenso wichtig wie das, was er gerade über Schneider gedacht hatte – und denTelefonsex mit Übersee.

Trotzdem beschäftigten ihn diese Fragen weitaus intensiver als die, was hinter der nächstenTür auf sie warten mochte oder gar draußen, sollte es ihnen tatsächlich gelingen, die Klinik zu verlassen. Die kleinen Helfer, die Schneider in seinen Kreislauf geschickt hatte, verrichteten ihre Arbeit offenbar noch immer mit großem Eifer: Es war ihm jetzt vielleicht möglich, sich auf eine bestimmte Sache zu konzentrieren, aber nicht auf irgend etwas Wichtiges.