Выбрать главу

»Warten Sie einen Moment hier«, sagte Salid plötzlich. »Keinen Laut.«

Brenner hörte, wie er die Tür öffnete und rasch hinter sich wieder zuzog, und für einen kurzen Moment sprang ihn doch die Panik an, wenn auch aus einem Grund, der ihm fast lächerlich vorgekommen wäre – wäre er imstande gewesen, irgend etwas anderes als Angst zu empfinden: Plötzlich fürchtete er sich vor nichts mehr als davor, allein zu sein. Ganz egal, wer bei ihm war, und sei es derTeufel persönlich, alles war besser als der Folterknecht, dem er die letzten drei Tage ausgeliefert gewesen war: dem Alleinsein.

Irgendwie gelang es ihm, seiner Gefühle Herr zu werden und die Panik niederzukämpfen, aber es war ein knapper Sieg, der auf der Rennbahn mit einem Zielfoto entschieden worden wäre. Seine Hände und Knie zitterten, und sein Atem ging plötzlich doppelt so schnell wie zuvor. Seine körperlichen Kräfte mochten zurückkehren, aber die seines Verstandes waren erschöpft. Das war zumindest eine Erklärung dafür, daß er Salid widerstandslos gefolgt war. Er konnte niemandem mehr widersprechen. Nicht einmal einem Massenmörder und Terroristen.

Salid kehrte schon nach wenigen Augenblicken zurück und streckte die Hand aus, um Brenner am Ellbogen zu ergreifen und vor sich herzuschieben, wie er es die ganze Strecke von seinem Zimmer bis hierher getan hatte, stockte aber dann mitten in der Bewegung. Brenner konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deutlich erkennen, aber er legte den Kopf schräg und bewies so, daß er ihn aufmerksam musterte.

»Was ist los mit Ihnen?« fragte er. »Sie sind kreidebleich. Ist Ihnen nicht gut?«

Brenner war nicht ganz sicher, ob der sonderbareTon in seiner Stimme Mißtrauen oder wirkliche Sorge war; und wenn ja, worüber. Er deutete ein Kopfschütteln an.

»Es ist nichts«, behauptete er. »Mir ist ein wenig übel, das ist alles.«

»Das vergeht«, behauptete Salid. »Wahrscheinlich eine Nebenwirkung der Medikamente, mit denen man Sie vollgestopft hat. Schaffen Sie es bis nach unten?«

»Kein Problem«, log Brenner. Tatsächlich war er sich nicht sicher. Das leere Gefühl heftigen Erschreckens ließ nicht nach, wie es normal gewesen wäre, sondern schien im Gegenteil schlimmer zu werden. Es war absurd: Er konnte fühlen, wie seine Kräfte zurückkehrten, mit jeder Sekunde, die sich sein Kreislauf gegen die Medikamente zur Wehr setzte, aber diese Energien schienen irgendwo auf halbem Wege zu versickern.

»Also gut«, sagte Salid. Er klang nicht überzeugt. »Beißen Sie die Zähne zusammen. Es ist nicht weit. Später können Sie ausruhen. «

Diesmal war Brenner fast dankbar, als er ihn am Ellbogen ergriff und vor sich her durch dieTür schob. Die winzige Anstrengung, einen Fuß vor den anderen zu setzen, wurde mit jeder Wiederholung schlimmer. Er hatte sich getäuscht: Nicht seine körperlichen Kräfte schwanden, sondern sein Wille.

Das Wenige, was er von dem Korridor auf der anderen Seite derTür erkennen konnte, unterschied sich nicht von dem, aus dem sie kamen. Graue Schemen und hier und da die geraden Linien einer Tür. Und es war genauso still wie auf der anderen Seite. Zu still.

Sie gingen nur wenige Schritte weit, dann blieb Salid abermals stehen und wiederholte seine Aufforderung, zu warten. Brenner nahm verschwommen wahr, daß er eine Tür öffnete und hindurchtrat, und im nächsten Moment schon hörte er ihn auf der anderen Seite lautstark und in einer ihm unbekannten Sprache fluchen. Als er zurückkam, konnte er seine Nervosität beinahe riechen.

»Was ist passiert?« fragte er.

»Nichts«, antwortete Salid. »Ich habe einen Fehler gemacht, das ist alles. Schnell jetzt!«

Sie gingen in schärferem Tempo weiter. Salid öffnete eine weitere Tür, schob Brenner hindurch und bugsierte ihn nach einem knappen Dutzend Schritte in eine Liftkabine.

»Können Sie die Schalttafel erkennen?« fragte er.

Brenner kniff die Augen zusammen, aber sein Sehvermögen war offenbar noch nicht imstande, so fein zu differenzieren. Er sah dieTafel, aber mehr nicht.

Salid seufzte, nahm seine Hand und legte seinen Zeigefinger auf einen der Knöpfe. »Zählen Sie in Gedanken bis dreißig«, sagte er. »Einundzwanzig … zweiundzwanzig … dreiundzwanzig … Klar? Dann drücken Sie den Knopf.«

Brenner nickte. Salid schien noch etwas sagen zu wollen, drehte sich aber dann wortlos um und verschwand mit raschen Schritten. Brenner hörte, wie er eine Tür in der Nähe öffnete und hindurchtrat.

Er begann gehorsam zu zählen. Er hatte keine Ahnung, was dieses Manöver sollte; wahrscheinlich hätte er es nicht einmal dann auf Anhieb durchschaut, wenn er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte gewesen wäre, aber er hätte in diesem Moment vermutlich alles getan, was Salid – oder sonstwer – von ihm verlangte. Selbst das Denken fiel ihm mittlerweile schwer. Einen Entschluß zu fassen, und sei es nur den, irgend etwas nicht zu tun, war viel zu mühsam.

Langsam zählte er in Gedanken bis fünfundzwanzig, dann noch einmal bis fünf und drückte den Knopf dann mit einer übertrieben konzentrierten Bewegung nieder. Die Aufzugtüren schlossen sich, und die Kabine setzte sich abwärts in Bewegung.

Sie fuhr nicht sehr weit. Brenner hatte bei dreißig nicht aufgehört zu zählen, aber der Lift hielt wieder an, noch bevor er bei vierzig angekommen war, und die Türen glitten wieder auseinander. Als er in Gedanken einundvierzig formulierte, flog irgend etwas Riesiges, Weißes zu ihm herein und schmetterte ihn mit solcher Wucht gegen die Wand, daß ihm die Luft aus den Lungen gepreßt wurde. Sein Kopf prallte gegen das verchromte Metall der Liftkabine. Grelle Schmerzblitze explodierten vor seinen Augen, und irgend etwas drückte gegen seine Kehle und schnürte ihm zusätzlich den Atem ab.

»Hören Sie auf! Das ist er nicht! «

Der furchtbare Druck auf seine Brust ließ nach, aber er bekam immer noch keine Luft. Der Mann, der ihn gegen die Wand geworfen hatte, preßte seinen Unterarm gegen Brenners Hals und drückte damit gleichzeitig seinen Kopf in den Nacken und seine Kehle zu. Seine andere Hand hatte Brenners rechten Arm gepackt und in der Brutalo-Version eines Polizeigriffes auf den Rücken gedreht.

»Sie sollen aufhören, verdammt noch mal! Lassen Sie ihn los! «

Trotz seines Schreckens erkannte Brenner Schneiders Stimme. Aber es verging immer noch eine Sekunde, bis der Angreifer endlich den Arm von seinem Kehlkopf nahm, und noch eine, ehe er auch seine Hand losließ, und Brenner hatte das deutliche Gefühl, daß er beides nur mit großem Bedauern tat. Er sank keuchend nach vorne, holte fast verzweifelt Luft und kämpfte gleichzeitig mit den Tränen. Seine Hand blutete wieder. Der Bursche hatte sie so gequetscht, daß Brenner nicht erstaunt gewesen wäre, wenn er ihm dabei ein paar Knochen gebrochen hätte.

Der Angreifer, ein großer, bulliger Kerl, den Brenner nicht zu erkennen brauchte, um zu wissen, daß es ein Krankenpfleger war – eines der seltenen, aber doch anzutreffenden Exemplare dieser Gattung, die ihren Beruf unter anderem darum ergriffen hatten, weil es manchmal einen widerspenstigen Patienten zu bändigen gab – , trat rückwärts aus der Kabine heraus und machte Schneider Platz. Hinter ihm konnte Brenner mindestens zwei, wahrscheinlich sogar mehr weitere Männer erkennen. Wenigstens wußte er jetzt, warum Salid darauf verzichtet hatte, mit dem Lift zu fahren. Er schien geahnt zu haben, daß es ein Empfangskomitee gab.

Schneider blieb einen halben Schritt vor ihm stehen und entblödete sich nicht, den Kopf nach rechts und links zu drehen, um sich davon zu überzeugen, daß Brenner auch wirklich allein in der kaum zwei Quadratmeter großen Liftkabine war. »Wo ist er?« fragte er.

»Wer?« keuchte Brenner. Er bekam immer noch nicht richtig Luft, und er war so durcheinander, daß er im ersten Moment tatsächlich nicht wußte, wovon Schneider sprach.

»Das wissen Sie ganz genau! « Schneiders gepreßtem Ton nach zu schließen, hatte er zu einer ganz anderen Antwort angesetzt. »Der Kerl, der Sie herausgeholt hat. Ihr Komplize! «

»Komplize? Ich weiß nicht, wen … « Brenner stützte sich mit der unverletzten Hand an der Kabinenwand ab und richtete sich auf, so weit es seine schmerzenden Rippen zuließen. Er atmete zweimal tief ein und aus, ehe er noch einmal ansetzte: »Ich weiß nicht, wen Sie meinen. Ich kenne den Mann nicht.«