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Auch Brenner hörte in diesem Moment ein noch dünnes, aber rasch deutlicher werdendes Heulen: den unverwechselbarenTon einer Polizeisirene. Salid mußte über ein mindestens ebenso scharfes Gehör verfügen wie er. Obwohl er sehen konnte.

Salid wedelte ungeduldig mit der freien Hand und richtete gleichzeitig seine imaginäre Waffe auf Brenner. Er hatte keine Waffe. Er konnte keine Waffe haben. Andererseits … Salid war zwischenzeitlich allein gewesen; lange genug, um eine Waffe zu holen, die er irgendwo deponiert hatte? Kaum. Nicht einmal annähernd lange genug. Es gab nur eine winzige Chance, daß mehr in der Jackentasche war als eine leere Hand. Dummerweise war auch eine Ein-Prozent-Chance, zu sterben, möglicherweise tödlich. Und Salid machte nicht den Eindruck eines Mannes, der noch viel zu verlieren hatte.

Das Heulen der Polizeisirene wurde lauter, als sie die Klinik verließen und sich nach rechts wandten.

Zumindest seine innere Uhr schien wieder zu funktionieren, denn als Weichsler erwachte, spürte er genau, daß mindestens eine halbe Stunde vergangen war. Eine unheimliche Stille umgab ihn, so intensiv, daß er im allerersten Moment fürchtete, taub zu sein. Dann reagierte sein Körper auf das Erwachen. Er bewegte sich unbewußt, und Weichsler hörte die beinahe

unmerklichen Geräusche, die er dabei verursachte. Er öffnete die Augen, drehte sich auf die Seite und setzte sich umständlich auf.

Er sah nicht sehr viel. Das Licht war ausgegangen, und die einzige Helligkeit war ein mattgrauer Schein, der durch die zerbrochenen Fenster hereindrang und sich auf Glassplittern und kleinen Schneeverwehungen brach, die sich überall gebildet hatten. Der Sturm selbst hatte jedoch aufgehört. Durch die Fenster wirbelten keine Eiskristalle mehr herein, und das war auch der Grund für die unheimliche Stille, die er gespürt hatte. Es war gar nicht so ruhig, aber die letzte Erinnerung, die er mit in die Bewußtlosigkeit hinübergenommen hatte, war das Heulen des Orkans gewesen.

Weichsler vermied es, sich zum Fenster herumzudrehen; denn außer dem Sturm gab es noch eine Erinnerung: die an den toten Wachoffizier, der über der Fensterbrüstung hing. Er hatte das Gefühl, daß es nicht der einzige Tote sein würde, den er fand.

Weichsler ging mit staksigen Schritten zurTür und betätigte den Lichtschalter, aber die Lampen blieben tot. Vielleicht waren sie zerschossen, mit größerer Wahrscheinlichkeit aber war die Hauptsicherung herausgeflogen. Auch draußen auf dem Flur herrschte fast vollkommene Dunkelheit.

Er hatte Angst, in diese Schwärze hinauszutreten, und es zeigte sich, daß diese Angst berechtigt war. Der Schulkorridor war so still wie das Klassenzimmer und wahrscheinlich das gesamte Gebäude, aber Weichsler erkannte trotz des praktisch nicht vorhandenen Lichtes, daß er voller Toter war. Die erste Leiche lag nur wenige Schritte links neben der Tür, aber die zweite bereits unmittelbar auf der anderen Seite, und es wurden mehr, je weiter sich die schreckliche Spur der Treppe näherte. Die Stufen selbst waren übersät mit reglosen Körpern; zwanzig, dreißig, vielleicht noch viel mehr. Die Klassenräume dort oben waren zu Schlafsälen umfunktioniert worden, um die fünfzig Männer des Einsatzkommandos aufzunehmen, und auf dem Weg dorthin mußte eine regelrechte Schlacht getobt haben. Weichsler wollte es nicht. Im Gegenteil, er wehrte sich mit aller Kraft dagegen, aber seine Phantasie machte sich selbständig und zeigte ihm in Farbe und dreidimensional, was geschehen sein mußte: Die Schüsse und der Lärm aus dem Erdgeschoß hatten die Männer geweckt, und das erste, was sie gesehen hatten, als sie ebenso erschrocken wie schlaftrunken aus ihren Räumen torkelten, war eine Armee lebender Toter gewesen. Wahrscheinlich hatten sie sofort das Feuer eröffnet.

Ein bitterer Geschmack breitete sich auf Weichslers Zunge aus, während er langsam die Treppe hinaufstieg, wobei er manchmal im wahrsten Sinne des Wortes über die Toten hinwegklettern mußte, um überhaupt noch von der Stelle zu kommen. Er korrigierte seine Schätzung noch einmal nach oben, als er den ersten Stock erreichte, denn auch der Korridor hier oben war voller Leichen. Einige von ihnen trugen gefleckte Uniformen oder zumindest Teile davon, und manche umklammerten noch im Tode die Waffen, mit denen sie sich gewehrt hatten – gegen einen Feind, der nichts von ihnen gewollt hatte. Weichsler blieb neben jedem seiner toten Kameraden stehen und untersuchte ihn, und er fand genau das, was er erwartet hatte: Die Männer waren ausnahmslos erschossen worden, und die tödlichen Kugeln hatten die meisten in den Rücken getroffen. Nicht die Toten hatten den Tod gebracht, sondern die Lebenden. Aber war das nicht eigentlich immer so?

Weichsler durchsuchte das Obergeschoß der Schule von einem Ende zum anderen. Es war in allen fünf Klassenräumen das gleiche: DieTüren standen offen, und auch die Räume dahinter waren voller Toter. Die meisten Fenster waren eingeschlagen. Wahrscheinlich hatten sie es am Schluß aufgegeben, sich ihren Weg nach draußen freischießen zu wollen, und waren durch die Fenster geflohen.

Es war so sinnlos. Schlimmer. Es war nicht sinnlos, es war ein Verbrechen: Sie waren Zeuge eines Wunders geworden, vielleicht des ersten wirklichen Wunders in der aufgezeichneten Geschichte der Menschheit. Die Toten waren auferstanden. Und die Soldaten hatten darauf reagiert, wie Menschen überall und zu allen Zeiten auf das reagierten, was sie nicht verstanden.

Weichsler versuchte, die Anzahl derToten zu schätzen, aber er kam zu keinem Ergebnis – vielleicht, weil er Angst davor hatte, vielleicht auch, weil eine so logische Tätigkeit nicht mehr auf die dunklen Pfade paßte, auf denen seine Gedanken wandelten. Tief in sich war er gewiß, daß keiner von denen, die aus derTurnhalle herübergekommen waren, noch lebte, aber er hatte Angst davor, aus dieser Gewißheit Wissen zu machen. Aber zugleich betete er auch fast, daß dem so war. Er ertrug weder den Gedanken, daß sie dieses Wunder zerstört hatten, noch den, daß dieToten tatsächlich zurückgekehrt waren. Vielleicht war dies eine von den Situationen, von denen er bisher nur gelesen hatte, ohne wirklich daran zu glauben, daß es sie gab: Jeder mögliche Ausgang war falsch.

Am Ende des letzten Zimmers angekommen, trat er ans Fenster und sah auf den Hof hinaus. Der Sturm war so spurlos verschwunden, als hätte es ihn niemals gegeben, und die Temperaturen schienen ebenso schlagartig wieder gestiegen zu sein, wie sie vorhin ins Bodenlose gefallen waren. Der Asphalt glänzte feucht, aber er sah nirgendwo Schnee. Fünf Meter unter ihm lag eine reglose Gestalt in geflecktenTarnhosen und mit nacktem Oberkörper; ansonsten war der Hof leer.

Weichsler wandte sich vom Fenster ab und ging, noch immer von dem gleichen leeren Gefühl erfüllt, zurTür zurück – im Grunde, ohne zu wissen, warum. Ein sonderbares Gefühl von Endgültigkeit hatte ihn erfaßt. Er hatte keine Angst mehr, und selbst das Entsetzen war einem dumpfen Druck gewichen, der nach den Erlebnissen der vergangenen Stunden fast wie eine Erleichterung war; aber er konnte sich einfach nicht vorstellen,daß er als einziger Überlebender einfach hier weggehen konnte, und noch viel weniger, daß er sein Leben so weiterführen würde, als wäre nichts geschehen.

Als er den Klassenraum verlassen wollte, fiel sein Blick in das Gesicht einer toten Frau, die quer vor der Tür lag. Vorhin war er einfach über sie hinweggestiegen, fast ohne sie zur Kenntnis zu nehmen, nur eine weitere Leiche unter vielen. Jetzt sah er ihr Gesicht, und er erkannte es wieder.

Eigentlich hätte er es nicht erkennen dürfen, denn es hatte sich radikal verändert. Als er es das letzte Mal gesehen hatte, war ihr Gesicht entstellt gewesen, grau und schaumgummiartig, beherrscht von zwei blauvioletten toten Augen, die ihn voller verzweifeltem Flehen anblickten. Wenn das Schicksal tatsächlich mehr war als ein abstrakter Begriff, sondern eine lenkende Macht, dann mußte es über einen wahrlich rabenschwarzen Humor verfügen. Es war das Mädchen, das unter seinen Händen aufgewacht war. Aber nun war ihr Antlitz unversehrt.