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Salid deutete auf dasTor, legte selbst einen kurzen Sprint ein und blieb unmittelbar vor dem Gittertor stehen. Brenner konnte nicht genau erkennen, was er tat, aber das Schloß hielt seinen Manipulationen nicht einmal so lange stand, wie Johannes und er brauchten, um Salid zu erreichen.

»Sehen Sie.« Salid deutete durch die Gitterstäbe auf die Straße hinaus. »Da kommt unser Fluchtfahrzeug.«

Johannes riß ungläubig die Augen auf. »Sind Sie verrückt?« »Komplett«, bestätigte Salid. »Das ist mein Erfolgsrezept. Der Grund, weshalb ich noch am Leben bin.« Er wurde übergangslos wieder ernst. »Sie warten hier, bis ich Ihnen ein Zeichen gebe. Wenn Sie zu fliehen versuchen, töte ich Sie.«

Für jemanden, der angeblich auf ihrer Seite stand, drohte er ziemlich oft damit, einen von ihnen umzubringen, fand Brenner. Er glaubte auch nicht, daß diese Drohung ernst gemeint war, aber seltsamerweise nutzte ihm diese Überzeugung nichts. Sie machte es nicht besser. Vielleicht war der Grund, aus dem er selbst Salid ebenso widerspruchslos gehorchte wie Johannes, weniger die Angst vor dem, was er ihnen androhte, als vielmehr davor, wozu er imstande war.

Und es kam noch etwas dazu: Im Grunde wußte er es schon die ganze Zeit über, aber er hatte es sich bisher noch nicht eingestanden, und er schrak auch jetzt noch vor dem Gedanken zurück – aber die Wahrheit war, daß Salid ihn faszinierte. Was er tat – nein, nicht was er tat, sondern weit mehr der Umstand, daß er all diese Dinge tat, daß er den Mut, die Kraft oder auch nur die Gewissenlosigkeit besaß, all diese Dinge zu tun, das berührte etwas tief in Brenner. Nicht den Abscheu, die Furcht und die gerechte Empörung, die er Menschen wie ihm gegenüber empfand, sondern etwas ganz anderes, etwas Dunkles und Uraltes, das in jedem Menschen schlummerte und das in Salid einen Bruder erkannte; die Bestie in ihm, welche die Bestie, die Salid vielleicht war, willkommen hieß.

Der Gedanke erschreckte ihn, aber er enthielt auch eine Wahrheit, der er sich nicht verschließen konnte. Nach allem, was er über Salid gehört hatte, war dieser ein Mörder, ein Mensch ohne Gewissen oder Skrupel, für den Gewalt etwas Normales war und der Widerstand brach, statt ihn zu umgehen. Nichts von alledem hatte Brenner je getan – aber manchmal hatte er sich gewünscht, es zu können. Nicht, daß er es wirklich getan hätte – die Tatsache allein, dazu imstande zu sein, hätte ihm vollends gereicht. Er war es nicht, und nun ertappte er sich dabei, Salid um diese Fähigkeit zu beneiden.

Und vielleicht nicht nur darum.

Das Heulen der ersten Polizeisirene war mittlerweile verstummt; der Wagen hatte vermutlich sein Ziel erreicht und vor der Klinik angehalten, aber das Geräusch des zweiten Streifenwagens kam immer näher, und irgendwo in der Ferne wimmerte noch ein drittes Martinshorn. Was immer Schneider mit seinem Anruf ausgelöst hatte, war weit mehr als ein normaler Polizeieinsatz und auf jeden Fall wohl mehr, als er selbst erwartet hatte. Salid schien dieser Gedanke jedoch nicht zu stören – er wartete in aller Seelenruhe, bis das an-und abschwellende Heulen herankam, dann riß er dieTür auf und stolperte mit wild rudernden Armen einen Schritt auf den Bürgersteig hinaus. Brenner beobachtete vollkommen verständnislos, wie er auf die Knie sank, seinen Sturz im letzten Moment mit den Händen ab fing und sofort wieder die Arme in die Höhe riß, um wild damit zu gestikulieren. Das Heulen der Sirene schwoll mittlerweile weiter an, und als Salid sich mit hastig-ungeschickten Bewegungen in die Höhe stemmte, wurde er von einem grellen Scheinwerferstrahl erfaßt. Salid riß schützend den linken Unterarm vor das Gesicht und torkelte weiter auf die Straße hinaus.

»Er ist hier! « schrie er. »Hierher! Schnell! «

Bremsen kreischten. Für eine oder zwei Zehntelsekunden war Brenner felsenfest davon überzeugt, daß der Streifenwagen Salid erfassen und einfach niederwalzen würde, aber der Fahrer reagierte im letzten Moment. Der grünweiße Passat schleuderte zur Seite, verfehlte Salid um kaum einen halben Meter und kam quer zur Fahrtrichtung zum Stehen.

» Er ist hier! « schrie Salid erneut. »Im Park! Schnell! «

Die Türen des Streifenwagens wurden gleichzeitig aufgerissen, und zwei Beamte stürzten heraus. Der eine hatte seine Waffe bereits gezogen, der andere tat es, während er ins Freie sprang.

»Sind Sie lebensmüde, Mann?« schrie er. »Was ist los?« Salid taumelte auf den Beamten zu, wobei er sich weit nach vorne beugte und zugleich noch immer den Arm vor das Gesicht hielt, als blende ihn das grelle Scheinwerferlicht. In Wirklichkeit konnten die beiden so nicht genau erkennen, wen sie eigentlich vor sich hatten – und genau das war schließlich der Sinn dieses perfekt inszenierten Auftritts. »Er ist im Park!« keuchte er. »Seien Sie vorsichtig! Er hat eine Waffe! Er hat den Priester erschossen! «

Auch der zweite Beamte war mittlerweile um den Wagen herumgeeilt. Seine Waffe war dabei auf Salid gerichtet gewesen, aber nun schwenkte er sie herum und richtete sie ganz instinktiv auf das offenstehende Gittertor – und damit auf Brenner, dem jäh zu Bewußtsein kam, daß er von der Straße aus deutlich als dunkler Umriß hinter demTor zu sehen sein mußte. Und daß die beiden Polizisten ihn nach Salids Worten zweifellos für den Mörder hielten, den sie jagten. Vielleicht erlagen sie diesem Irrtum nur eine Sekunde, aber das war mehr, als Salid brauchte. In einer einzigen blitzschnellen Bewegung richtete er sich auf, schlug einem der beiden Beamten die Waffe aus der Hand und schmetterte dem anderen den Unterarm gegen die Kehle. Der Polizist sank keuchend in die Knie, schlug die Hände gegen den Hals und rang verzweifelt nach Luft, während sein Kollege die Arme in die Höhe riß, um Salid anzugreifen.

Er hatte nicht einmal die Spur einer Chance. Salid blockte seinen Hieb mit dem Ellbogen ab, tänzelte zur Seite und versetzte ihm einen Faustschlag, der ihn rücklings über die Motorhaube des Streifenwagens schleuderte. Blitzschnell setzte er ihm nach, riß ihn in die Höhe und versetzte ihm einen zweiten, noch härteren Schlag. Der Mann erschlaffte in seinen Armen. Salid warf ihn achtlos zu Boden und drehte sich herum.

»Los! «

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß etwas in ihm Salid gehorchen wollte, dann hätte er ihn jetzt gehabt. Brenners Füße setzten sich wie von selbst in Bewegung. Er stürmte aus demTor und auf Salid und den Streifenwagen zu, so schnell er konnte, obwohl in seinem Kopf eine immer lauter werdende Stimme war, die ihm zuschrie, daß das, was er tat, nicht nur an Wahnsinn grenzte, sondern diese Grenze eindeutig überschritten hatte. Er hatte seine Chance gehabt. Salid war nur wenige Sekunden fort gewesen, aber diese Zeit hätte Johannes und ihm trotzdem gereicht, in der Dunkelheit des Parks zu verschwinden. Warum hatten sie es eigentlich nicht getan? Warum, um alles in der Welt, hatten sie es nicht getan?

Wahrscheinlich gab es keine Erklärung; und wenn, dann keine, die er im Moment ertragen hätte. Salids unheimlicher Bann über ihn hielt auf jeden Fall noch immer an – und ganz offensichtlich wirkte er genauso auf Johannes; denn auch er hatte sich – wenn auch nach einem winzigen Zögern – in Bewegung gesetzt.

Salid riß die hintere Tür des Streifenwagens auf und stieß Brenner kurzerhand hinein, ehe er auch nur irgend etwas sagen konnte. Danach wandte er sich an Johannes. »Können Sie Auto fahren?«

»Nicht besonders gut«, antwortete Johannes. »Und ne nnen Sie mich nicht – «

»Dann wird es Zeit, daß Sie es lernen«, unterbrach ihn Salid. Er versetzte Johannes einen Stoß, der ihn unsanft hinter das Steuer beförderte, und eilte hastig um den Wagen herum. Bevor er einstieg, beugte er sich zu dem bewußtlosen Polizeibeamten hinab und nahm dessen Waffe an sich. Brenner war nicht besonders überrascht, aber Johannes starrte die Waffe mit einem Ausdruck an, der unter allen anderen vorstellbaren Umständen einfach nur komisch gewesen wäre.