Kenneally zuckte mit den Schultern, machte eine Bewegung, wie um die Waffe in die Jackentasche zu stecken, wechselte sie aber dann nur von der Rechten in die Linke und zog mit der freigewordenen Hand das Telefon hervor, ehe er sich wieder zum Fenster herumdrehte. Sofort wurde das Gefühl, beobachtet zu werden, so intensiv, als berührte ihn etwas zwischen den Schulterblättern. Doch als er sich abermals herumdrehte, war der Flur so leer wie zuvor.
Überhaupt war das Haus unheimlich still. Wirklich bewußt wurde ihm dies vielleicht erst in diesem Moment, aber gespürt hatte er es natürlich schon die ganze Zeit über. Viel zu still. Nach allem, was auf der Straße geschehen war, dem Sirenengeheul, den Stimmen, dem Lärm, dem Motorengeräusch und den Schreien, von den Schüssen und dem Lärm des Hubschraubers kaum einen Block weiter ganz zu schweigen, hätte der Flur voller Menschen sein müssen, die sich neugierig an den Fenstern drängten.
Nichts davon war der Fall. Das Haus schien im Gegenteil wie ausgestorben zu sein. Vielleicht waren alle seine Bewohner geflohen, oder die örtlichen Behörden waren umsichtig genug gewesen, sie zu evakuieren.
Irgend etwas sagte Kenneally, daß dies nicht die Erklärung war, aber er schrak auch zugleich davor zurück, über den wahren Grund der Grabesstille nachzudenken, die von dem schäbigen Wohnhaus Besitz ergriffen hatte.
Vielleicht, weil er dann auch über die Ursache der anderen, viel gewaltigeren Dunkelheit hätte nachdenken müssen, die die Stadt draußen vor dem Fenster verschlungen hatte. Es war nicht allein der Stromausfall – wenn es sich überhaupt um einen solchen handelte. Selbst ohne elektrisches Licht hätte es nicht so dunkel sein dürfen. Am Himmel stand nicht ein einziger Stern, und das, obwohl die Nacht – soweit er sich erinnerte eigentlich wolkenlos gewesen war. Und hätte nicht längst die Dämmerung hereinbrechen müssen?
Kenneally schob den Ärmel zurück und sah auf die Uhr, konnte aber die Stellung der Zeiger in dem praktisch nicht vorhandenen Licht nicht richtig erkennen. Trotzdem eigentlich müßte schon langsam die Sonne aufgehen. Die Wolken, die offensichtlich aufgezogen waren, mußten tatsächlich sehr dicht sein. Allerdings spielte das Wetter seit einigen Tagen ohnehin verrückt.
Wieder hörte er ein leises Rascheln hinter sich, aber diesmal widerstand er dem Impuls, sich herumzudrehen. Er wußte, daß er allein war. Statt dessen klappte er dasTelefon auf, wählte nur mit dem Daumen die vielstellige Nummer, die er früher in dieser Nacht schon einmal gewählt hatte, und lauschte auf das Freizeichen.
Die Satellitenverbindung kam zustande, kaum daß er den Daumen von der letzten Taste gehoben hatte, und diesmal
wußte er, daß derTeilnehmer am anderen Ende der Leitung mit der Hand auf dem Telefonhörer auf seinen Anruf gewartet haben mußte.
»Ist es vorbei?«
Sein Gesprächspartner machte sich nicht die Mühe, sich mit einer Begrüßung oder irgendeiner anderen Floskel aufzuhalten. Kenneally hörte deutlich die Anspannung, die in der Stimme des anderen mitschwang. Er gab sich gar keine Mühe, sie zu verhehlen.
Er antwortete nicht gleich, sondern erst nach zwei oder drei Sekunden, und dieses Zögern allein machte seine Antwort schon beinahe überflüssig. »Nein. Es gab … Schwierigkeiten.« »Das heißt, sie leben noch.«
»Ja«, antwortete Kenneally.
»Sie haben versagt.« In der Stimme war nichts von dem Vorwurf, den die Worte beinhalteten. Sie klang eher resigniert. Trotzdem verteidigte sich Kenneally heftig. »Es war nicht meine Schuld! « sagte er. »Sie haben mir nicht gesagt, womit ich es zu tun habe. Ein halbes Dutzend meiner besten Männer sind tot, und … und ich weiß nicht einmal genau, was passiert ist.« »Was ist passiert?«
»Verdammt, ich weiß es nicht! « wiederholte Kenneally heftig. Es war die Wahrheit. Irgend etwas in ihm sperrte sich noch immer dagegen, die Erinnerungen zu Bildern zu machen. Er hatte ganz deutlich gesehen, was vor dem Haus geschehen war, aber er konnte es einfach nicht formulieren. Nicht in Worten, nicht einmal in Bildern für sich. »Irgend etwas ist aus dem Haus gekommen. Es war nicht Salid oder einer der anderen, aber … «
»Also sind sie am Leben und auf freiem Fuß. Sie müssen sie töten.«
»Das kann ich nicht«, erwiderte Kenneally.
»Sie müssen. Sie ahnen ja nicht, worum es geht.«
»Dann sagen Sie es mir!« verlangte Kenneally. »Verdammt noch mal, ich riskiere viel! Vielleicht mein Leben, auf jeden Fall aber meine Karriere. Und Sie sagen mir nicht einmal, warum?«
»Für Erklärungen bleibt keine Zeit«, antwortete die Stimme aus dernTelefon. »Aber Sie können mir glauben, daß weder Ihr Leben noch Ihre Karriere noch die geringste Rolle spielen, wenn es Ihnen nicht gelingt, sie aufzuhalten. Sie müssen diese Männer töten. Wenigstens einen von ihnen.«
»Einen?« wiederholte Kenneally überrascht. »Und es ist gleich, welchen?« Wenn diese Geschichte überhaupt jemals einen Sinn ergeben hatte – nun tat sie es ganz bestimmt nicht mehr. Er konnte verstehen, daß jemand Salids Tod verlangte. Möglicherweise gab es triftige Gründe dafür. Vielleicht sogar dafür, einen harmlosen Jesuitenpater und einen unbedarften Versicherungsvertreter mit zu liquidieren, denn sie mochten Zeugen von etwas sein, wofür es keine Zeugen geben durfte.
Aber der Befehl, einen der drei zu töten; wahllos? Das war … absurd!
»Ich habe Sie richtig verstanden?« vergewisserte er sich. »Es ist gleich, welchen ich erwische?«
»Töten Sie alle drei, wenn es Ihnen möglich ist«, antwortete die Stimme. Sie hatte nunmehr jeden Gleichmut verloren. Dieruhige Überle genheit, die Kenneally immer am meisten daran beeindruckt hatte, war etwas gewichen, das nichts anderes mehr als Panik war. »Wenn es nicht geht, versuchen Sie wenigstens, einen aufzuhalten. Vielleicht reicht es aus.«
»Wozu?« fragte Kenneally.
Diesmal bekam er keine Antwort. Nach einer Weile fuhr die Stimme etwas – nur etwas, nicht viel – ruhiger fort: »Wo sind Sie jetzt? Genau?«
Kenneally sagte es ihm, und diesmal verging mehr Zeit, ehe das leise statische Rauschen der Satellitenverbindung wieder vom Klang der Stimme unterbrochen wurde, die Kenneallys Leben seit anderthalb Jahrzehnten beherrschte.
»Gut. Ich kann in ungefähr anderthalb Stunden bei Ihnen sein. Gibt es einen Ort in der Nähe, wo ein Helikopter landen kann?«
»Das Krankenhausdach«, antwortete Kenneally. Er war ein wenig überrascht. Selbst ein wirklich schneller Helikopter würde in anderthalb Stunden kaum mehr als fünfhundert Meilen zurücklegen können, und irgendwie hatte er immer angenommen, daß sein geheimnisvoller Gesprächspartner sehr weit weg leben mußte; unabhängig davon, von welchem Ort der Welt aus er gerade mit ihm sprach.
»Dann erwarten Sie mich dort.«
Die Verbindung endete ohne ein Wort des Abschieds oder eine weitere Anweisung. Kenneally blieb vollkommen verstört zurück. Er starrte das Telefon an, und vielleicht zum erstenmal in seinem Leben fragte er sich, ob das, was er tat, auch wirklich richtig war. Er hatte niemals an der Stimme gezweifelt, obwohl sie ihm manchmal Aufgaben übertrug, die sinnlos – und in ein oder zwei Fällen seiner Meinung nach auch falsch-gewesen waren. Jetzt tat er es.
Aber zugleich spürte er auch, daß es zu spät war. Er hatte sich entschieden, schon vor langer Zeit, und wie immer der Preis für diese Entscheidung auch aussehen mochte, er würde ihn heute bekommen – oder bezahlen müssen.
Er klappte dasTelefon zu, stand eine Sekunde lang reglos vor der schwarzen Fensterscheibe, die seine Gestalt als sonderbar verzerrten Schemen widerspiegelte, und öffnete den Plastikdeckel dann erneut. Die Nummer, die er diesmal anwählte, war nicht wesentlich kürzer als die andere, und eigentlich war es nicht einmal eine richtige Telefonnummer. Das Gespräch wurde über mehrere Satelliten umgeleitet und umkreiste vermutlich einmal den Erdball, ehe es schließlich über ein Relais, von dessen Existenz nicht einmal seine unmittelbaren Vorgesetzten wußten, in das Funknetz der US-Army eingespeist wurde. Statt eines Freizeichens hörte er nur ein knisterndes Rauschen, dann meldete sich der Bordfunker des Helikopters, der den Angriff auf die Pension geflogen hatte. Kenneally ließ ihm nicht einmal hinlänglich Zeit, sich zu melden, ehe er ihn in scharfernTon unterbrach: