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Auch der Pilot hatte das Phänomen nun endlich bemerkt, und vielleicht sah er noch viel deutlicher als Brenner und Johannes, was tatsächlich geschah. Die Turbine des Hubschraubers heulte plötzlich schrill auf. Die Maschine machte einen regelrechten Satz in die Höhe und zugleich auf Salid zu, begann sich gleichzeitig um die eigene Achse zu drehen und beschleunigte weiter.

Sie war nicht schnell genug. Der Pilot holte das Letzte aus seiner Maschine heraus, aber der lautlose Sturmwind war schneller. Aus den tanzenden Windhosen wurde eine einzige, brodelnde Masse, ein wirbelndes Chaos aus reiner Bewegung und lebendig gewordener Schwärze, die im Bruchteil eines Augenblicks zum Hundertfachen ihrer ursprünglichen Größe explodierte. Etwas wie eine gewaltige, dunkle Kralle schlug nach dem Helikopter und ließ ihn taumeln.

Die Maschine schwankte. Sie gewann noch immer an Höhe und schien sogar noch schneller zu werden, aber aus ihrem pfeilgeraden Aufstieg wurde ein torkelndes Schwanken, und das Motorengeräusch hörte sich plötzlich verändert an; schriller, unregelmäßiger und irgendwie mühevoll. Brenner konnte den Hubschrauber kaum noch richtig sehen. Er schwebte nach wie vor über der Straße, war aber plötzlich in einen Nebel aus tanzenden Schatten eingehüllt. Millionen, Millionen und Abermillionen winziger geflügelter Angreifer, die gegen den Rumpf prallten, an den Scheiben zerbarsten und den rasenden Wirbel der Rotoren zu unterbrechen versuchten, in die Ansaugöffnungen der Turbine krochen und zu Tausenden in den Auspuffschächten verglühten.

Brenner konnte nicht sehen, was letzten Endes geschah. Vielleicht war es den Heuschrecken irgendwie gelungen, in die Kanzel einzudringen und über die Besatzung herzufallen, vielleicht verstopfte die zusammenschmelzende Masse aus winzigen Körpern auch binnen Sekunden die Maschinen – das Motorengeräusch wurde noch schriller und begann jetzt eindeutig zu stottern. Die Maschine wankte, stand für einen Moment in der Luft still und drehte sich dann immer schneller und schneller um ihre eigene Achse, als hätten die Rotoren beschlossen, stillzustehen und statt dessen die Maschine darunter wie einen riesigen Kreisel rotieren zu lassen. Dann hörte das Motorengeräusch schlagartig auf.

Ein furchtbares, splitterndes Geräusch erklang, der Laut von zerreißendem Stahl und auseinanderberstenden Lagern, und in der nächsten Sekunde kippte der Hubschrauber auf die Seite und fiel dann wie ein Stein zu Boden. Er schlug weit jenseits der Betonmauer auf, die das Krankenhausgelände auf der anderen Straßenseite umgab. Eine fünfzig Meter hohe Flammensäule schoß in den Himmel und verwandelte sich für Sekunden in einen wabernden Pilz. Ein ungeheurer Donnerschlag erklang, und in weitem Umkreis regneten brennende Trümmerstücke zu Boden.

Brenner schloß für einen Moment die Augen. Das Krachen der Explosion hallte lange und unnatürlich verzerrt in seinen Ohren wider, und das Licht war für Momente so grell, daß es selbst durch seine geschlossenen Lider drang, als wolle es sich für alle Zeiten in seine Netzhäute einbrennen. Er hörte, wie Johannes neben ihm etwas zu stammeln begann – dem monotonen Singsang seiner Stimme nach zu vermuten wahrscheinlich ein Gebet – , aber verstand kein Wort davon. Nicht, weil Johannes undeutlich geredet hätte. Für eine Sekunde, nicht mehr, war es ihm, als hätte er verlernt, die menschliche Sprache zu verstehen. Der grelle Blitz und das ungeheure Krachen der Explosionen schienen ihn ein Stückweit aus der Wirklichkeit hinausgeschleudert zu haben, und es hätte vielleicht nur noch einer Winzigkeit bedurft, seinen Geist endgültig über die schwarze Klippe zu stoßen, an deren Rand er seit Stunden entIangtaumelte.

Aber er fing sich wieder; diesmal noch. Sein Bewußtsein hangelte sich langsam in die plötzlich so unsicher gewordenen Grenzen der Realität zurück, und plötzlich fand er sich zusammengekauert neben Johannes dahocken, in einer verkrümmten, schutzsuchenden Haltung, die Arme über den Kopf geschlagen und beide Knie dicht an die Brust gezogen. Es mußte wohl doch deutlich mehr als eine Sekunde verstrichen sein, denn das Grollen der Explosion war mittlerweile völlig verklungen, und Salid stand nicht mehr draußen auf der Straße, sondern beugte sich mit besorgtem Gesicht über ihn und redete offensichtlich schon eine geraume Weile auf ihn ein.

»Was ist los mit Ihnen?« fragte er. »Verdammt, Brenner, antworten Sie endlich! «

Brenner nahm vorsichtig die Arme herunter, blieb aber noch einen Moment lang in der gleichen, verschreckten Haltung sitzen. Er verspürte dieses Gefühl nicht wirklich, aber seine Körpersprache signalisierte Salid anscheinend, daß er Angst hatte, er würde ihn schlagen; denn nach einer winzigen Pause fügte Salid in beruhigendemTon hinzu:

»Ich tue Ihnen nichts. Keine Angst. Es ist vorbei.«

Brenner richtete sich zitternd auf. Salid mußte ihn stützen, und Brenner klammerte sich mit solcher Kraft an ihm fest, daß es dem Palästinenser weh tun mußte. Aber Salid wehrte sich nicht, sondern überzeugte sich erst davon, daß Brenner auch tatsächlich aus eigener Kraft auf den Beinen stehen konnte, ehe er seine Hand mit sanfter Gewalt beiseiteschob. »Wir müssen weiter«, sagte er.

Brenner nickte, und er setzte sich auch gehorsam in Bewegung und folgte dem Palästinenser, aber die Worte kamen ihm zugleich auch fast absurd vor. Weiter. Mit einem Male schien ihm dieser Begriff vollkommen leer, sinnlos. »Weiter« bedeutete, irgendwohin zu gehen, und er hatte plötzlich das Gefühl, daß es kein Irgendwo mehr gab, wohin sie gehen konnten. Seit er in dieser Nacht aufgewacht war – Großer Gott!

War es tatsächlich erst ein paar Stunden her, seit dieser Wahnsinn begonnen hatte? War das alles wirklich in einer einzigen Nacht passiert?! – war er von einem Moment des Irrsinns in den nächsten, furchtbareren gestolpert, immer in der festen Überzeugung, daß es nicht mehr schlimmer kommen konnte, und immer einen Augenblick davon entfernt, eines Besseren belehrt zu werden.

Das Furchteinflößendste von allem aber war vielleicht, daß er tief in seinem Inneren spürte, daß auch Salid längst nicht mehr wußte, wohin sie dieses Weiter führen würde. Sie hatten einen Kampf aufgenommen, der im gleichen Moment, in dem sie ihn begannen, bereits verloren gewesen war, vielleicht sogar, weil sie ihn aufgenommen hatten, und sie wußten schon lange nicht mehr, gegen wen sie eigentlich kämpften oder nach welchen Regeln. Die Ereignisse hatten längst die Kontrolle über ihr Handeln übernommen.

Er stolperte blindlings hinter Salid her und merkte nicht einmal, daß dieser stehenblieb, bis Salid den Arm ausstreckte und er unsanft dagegenlief. Erst dann registrierte Brenner, daß die Straße vor ihnen nicht mehr leer war. Ein Wagen kam auf sie zu; nicht sehr schnell, aber mit aufgeblendeten Scheinwerfern und heulendem Motor und außerdem nicht ganz gerade; der Fahrer war entweder verletzt oder betrunken, oder er hatte keine Ahnung vom Autofahren. Es kam Brenner fast absurd vor, daß er solche Details überhaupt noch bemerkte, aber auch seine Wahrnehmung der Dinge schien sich verändert zu haben.

Obwohl sich das Motorengeräusch nicht veränderte, sondern eher noch schriller zu werden schien, als das Fahrzeug näherkam, wurde es langsamer. Brenner sah aus den Augenwinkeln, wie Salid die – nutzlose, weil leergeschossene MN hob, sie aber nicht direkt auf den Wagen richtete, sondern nur in seine ungefähre Richtung. Der Wagen – ein Mercedes oder Ford-Van, das konnte er nicht genau erkennen schwenkte dicht vor ihnen zur Seite, vollführte eine ungeschickte Hundertachtzig-Grad-Drehung und stieß dann wieder ein Stück zurück. Der Motor ging aus. Brenner wartete darauf, daß jemand ausstieg, aber statt dessen geschah eine gute halbe Minute lang gar nichts. Dann wurde eine der beiden hinteren Türhälften aufgestoßen, und eine schlanke Gestalt in einem fleckigen hellen Mantel winkte ihnen hektisch zu.