»Steigt ein! Schnell! «
Nach allem Absurden, was geschehen war, erschien es Brenner fast schon wieder logisch, daß sie gehorchten, ohne auch nur eine Frage zu stellen. Salid überwand die Entfernung zum Van mit zwei, drei schnellen Schritten, sprang ins Innere des Wagens und drehte sich dann herum, um erst Johannes und dann Brenner beim Einsteigen behilflich zu sein. Er schloß die Tür hinter Brenner, überzeugte sich pedantisch davon, daß sie verriegelt war, und wandte sich erst dann an ihren geheimnisvollen Retter.
»Wer sind Sie?«
»Das ist jetzt egal.« Der Mann im Trenchcoat hatte sich schon wieder herumgedreht und war auf dem Weg nach vorne. Brenner sah jetzt, daß sein Mantel nicht wirklich schmutzig war, wie er anfangs geglaubt hatte. Er war zerfetzt und hier und da angesengt, aber die dunklen Flecken, die er für Schmutz gehalten hatte, waren eingetrocknetes Blut.
»Haltet euch fest. Ich werde ziemlich schnell fahren müssen. Und ich weiß nicht, ob sie uns verfolgen.«
Brenner gehorchte ganz automatisch, und auch Johannes und
–zu Brenners Überraschung – selbst Salid, wenn auch nach kurzem Zögern, ließen sich auf die schmale, ungepolsterte Bank auf der rechten Seite des Wagens niedersinken. Die gegenüber liegende Seite wurde von einem wuchtigen Metalltisch beherrscht, der sich über die gesamte Fahrzeuglänge zog und vonTonbandgeräten, Bildschirmen, Mikrofonen und allen möglichen anderen elektronischen Apparaturen nur so überquoll.
Der Fremde hatte mittlerweile das Führerhaus wieder erreicht, hinter dem Steuer Platz genommen und drehte den Zündschlüssel. Der Motor sprang erst beim dritten oder vierten Versuch an, dann aber mit einem schrillen Heulen, als der
Mann viel zu viel Gas gab. Brenners Vermutung, daß ihr Chauffeur wenig, wenn nicht überhaupt nichts vom Autofahren verstand, wurde fast zur Gewißheit, als sich der Wagen in Bewegung setzte – mit einem Ruck, der Johannes und ihn fast von der Bank geschleudert hätte. Salid hatte sich ein wenig besser in der Gewalt, aber er verdrehte die Augen, legte endlich die leergeschossene Waffe auf den Boden und balancierte geduckt und mit halb ausgebreiteten Armen nach vorne.
»Vielleicht wäre es besser, wenn ich fahre«, sagte er. »Wahrscheinlich«, antwortete der Mann am Steuer, ohne allerdings irgendeine Bewegung zu machen, um diese Erkenntnis in die Tat umzusetzen. Er nahm nicht einmal den Fuß vom Gas, sondern beschleunigte im Gegenteil noch mehr. Der Motor heulte protestierend auf, und der Van schoß mit einem so heftigen Schaukeln um die Kurve, daß Salid hastig an der Rückenlehne des Beifahrersitzes nach Halt suchte.
»Sie sollten in den nächsten Gang schalten«, sagte er. »Auf diese Weise lebt der Motor länger – und wir erregen vielleicht nicht ganz so viel Aufsehen.«
Der Fahrer tat, was Salid ihm geraten hatte, und prügelte den nächsthöheren Gang hinein – dem Geräusch nach zu urteilen, ohne die Kupplung zu benutzen.
»Sie sind kein sehr geübter Fahrer, wie?« fragte Salid.
»Ich hab' nicht einmal einen Führerschein«, gestand der Fremde. »Aber wenn wir angehalten werden, ist es trotzdem besser, wenn ich am Steuer sitze. « Er sah zu Salid hoch, während er dies sagte, und zum erstenmal sah Brenner sein Gesicht deutlicher; wenn auch im unheimlichen grünen Widerschein der Armaturenbeleuchtung. Trotzdem erschrak er zutiefst. Auch das Gesicht des Mannes war voller eingetrocknetem Blut. Quer über seine linke Wange zog sich eine klaffende, noch nicht völlig verkrustete Wunde, und was von seiner Haut überhaupt noch sichtbar war, war so bleich wie die eines Toten. Brenner sah hastig weg. Er wollte nicht wissen, welches Geheimnis diesen Mann umgab. Im Grunde wollte er nicht einmal wissen, warum er ihnen half.
Auch Salid schwieg für mehrere Sekunden, nachdem er ins Gesicht des Fremden geblickt hatte. Seine Stimme zitterte ganz leise, als er weitersprach, und Brenner bemerkte, daß er die Rückenlehne des Sitzes fester umklammerte, als nötig gewesen wäre.
»Wohin bringen Sie uns?« fragte er. »Zum Kloster«, antwortete der Fremde.
Der Donner der Explosion war längst erloschen, aber die Fensterscheibe schien noch immer unter Kenneallys Fingerspitzen zu vibrieren, und in seinen Ohren hatte das dumpfe Krachen, mit dem der Helikopter auf dem Boden aufschlug und in einem Flammenball auseinanderbarst, eher wie ein Schrei als wie eine Explosion geklungen. Er glaubte die Hitze zu spüren, welche hinter dem zuckenden Licht steckte, das noch immer hinter der Betonmauer auf der anderen Straßenseite loderte; so intensiv, daß seine Hände, die er gegen die Fensterscheibe preßte, plötzlich tatsächlich zu schmerzen begannen. Es war ihm nicht möglich, sie zurückzuziehen.
So wenig, wie es ihm möglich war, irgend etwas zu tun oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Alles, was er empfand, war Entsetzen. Diesmal hatte er gesehen, was geschah, und es gab keine Möglichkeit mehr, es irgendwie zu verleugnen. Die Dunkelheit war lebendig geworden und hatte den Helikopter vom Himmel gefegt, so, wie sie vorhin seine Leute von der Straße gefegt hatte – und die getötet, die er ins Haus geschickt hatte. Aber das war etwas anderes gewesen. Die Männer vorhin hatten gewußt, was sie taten. Sie waren sich des Risikos bewußt gewesen – vielleicht nicht der Tatsache, welchem Gegner sie wirklich gegenüberstanden, aber doch der, daß es sich um einen möglicherweise tödlichen Feind handelte. Letztlich spielte es keine Rolle, ob sie von einem palästinensischen Terroristen oder einer mystischen Macht getötet worden waren.
Die beiden Piloten dort drüben waren ahnungslos gewesen. Sie hatten sich in der Sicherheit ihrer unbesiegbaren Vernichtungsmaschine gewähnt und nicht einmal gewußt, was sie erwartete; mehr noch – hätten sie gewußt, was sie wirklich taten, hätten sie Kenneallys Befehl bestimmt nicht befolgt, sondern eher ihn aufs Korn genommen als die drei Männer dort unten auf der Straße. Er hatte sie belogen. Ebensogut hätte er seine Pistole nehmen und sie eigenhändig erschießen können.
Seltsam – Kenneally hatte sich nie viele Gedanken um die Menschen gemacht, die er befehligte und bisweilen in den fast sicheren Tod schicken mußte. Wie viele seiner Kollegen war Kenneally schon vor Jahren zum Zyniker geworden, für den Menschenleben nichts als eine Verfügungsmasse waren, mit der man fast nach Belieben umgehen konnte; etwas von – wenn überhaupt – materiellem Wert, der sich aus den Kosten für Ausbildung, Equipment und den möglichen Regreßansprüchen eventueller Hinterbliebener errechnete. Zum allererstenmal hatte er das Gefühl, mehr als eine Sache zerstört, sondern mit diesen beiden Leben etwas auf sein Gewissen geladen zu haben, das vielleicht zu schwer wog, um noch damit fertig zu werden. Was geschah mit ihm? Was waren das für Gedanken?
Kenneally schloß für einen Moment die Augen und preßte die Stirn gegen das Glas, aber es nutzte nichts. Zwischen seinen Schläfen tobte ein Chaos aus unbekannten, erschreckenden Empfindungen und Bildern, die zu gräßlich waren, um sie zu ertragen, und vor denen er die Augen doch nicht schließen konnte, denn sie spielten sich hinter seinen Lidern ab. Was war das? Verlor er den Verstand?
Nein. Du hast nur gelernt, zu sehen.
Er hörte die Stimme nicht wirklich. Nicht auf die Weise, auf die er sein Leben lang gehört hatte, und im ersten Moment nahm er die Worte nicht einmal wirklich wahr, sondern hielt sie einfach für einen Teil des emotionalen Wirbelsturmes, der durch sein Gehirn fegte. Aber es war etwas darin, das zu gleichen Teilen unendlich fremd und anders als auch auf fürchterliche Weise vertraut war. Kenneally öffnete die Augen. Er wünschte sich, es nicht zu tun, aber er konnte nicht anders.
Er war nicht mehr allein. Das Gefühl, beobachtet zu werden, das ihn die ganze Zeit über gequält hatte, wich schlagartig dem Wissen, daß jemand hinter ihm stand. Er sah nur einen Schatten, einen verzerrten Reflex auf der Fensterscheibe, der sich im züngelnden Licht der Flammen auf unheimliche Weise zu bewegen schien, und trotzdem wußte er sofort, wer es war.
»Was willst du?« stöhnte er. »Geh. Laß mich in Frieden! Geh! «
Die Gestalt, die Smith war, obwohl sie es nicht sein konnte, bewegte sich einige Schritte weit auf ihn zu und wurde nun auch in der Spiegelung auf dem Glas zu einem Körper.Trotzdem war etwas an ihr auf grauenerregende Weise falsch.