Es ist noch nicht zu spät.
Kenneally ertrug den Druck nicht mehr. Kein Schrecken, den er sah, konnte so entsetzlich sein wie der, den er nicht sah. Mit einem Ruck drehte er sich zu Smith herum und hob gleichzeitig seine Waffe. Ganz gleich, auf welche Weise Smith den Tod überlistet hatte, ob er nun zu einem Zombie geworden war oder zu einem mythischen Dämon, er konnte wenigstens versuchen,ihn –
Kenneally brachte weder den Gedanken noch die Bewegung gänzlich zu Ende.
Es gab nichts, was er tun konnte.
Smith war kein Zombie, keine lebende Leiche, die aus einem Horrorfilm entsprungen war. Smith war überhaupt nicht Smith, sondern eine wirbelnde, kribbelnde Masse aus Tausenden und Abertausenden durcheinanderwuselnder, vielbeiniger, glitzernder … Dinger, die ihn aus winzigen Augen anstarrten. Das Ding, das seinen Anzug ausfüllte und die Formen seines Gesichts okkupiert hatte, befand sich in ständiger, brodelnder Bewegung, in der es vermutlich auch bleiben mußte, um den Kräften der Schwerkraft zu widerstehen, die es zu Boden reißen und seiner unnatürlichen Form berauben wollten. Unter Smith' zerfetztem Anzug schienen ein Dutzend Herzen gleichzeitig und in unterschiedlichemTakt zu schlagen. Arme und Beine veränderten unentwegt ihre Länge, und seine Hände hatten mal zwei Finger, dann keine und dann wieder ein Dutzend, und immer wieder fielenTeile der gräßlichen Masse
herunter und krabbelten auf mikroskopisch kleinen Beinchen zurück, um sich erneut mit dem alptraumhaften Gebilde zu vereinen. Nur das Gesicht behielt seine Form, aber das machte den Anblick eher noch schlimmer, statt ihm seinen Schrecken zu nehmen. Kenneally spürte, wie sein Herz aussetzte. Eine Hand aus Eis griff durch seine Kopfhaut und den Schädel hindurch und begann sein Gehirn zusammenzudrücken, und er konnte nicht mehr atmen. Er war …
Verrückt.
Er hatte den Verstand verloren, erlag einer durch und durch gräßlichen Halluzination.
Nein. Das hast du nicht.
O doch, das hatte er. Er hatte – zumindest für einen kurzen Moment – die Grenzen zwischen Normalität und Wahnsinn überschritten, und dieser Gedanke erschreckte ihn nicht im geringsten. Ganz im Gegenteil, es war vielleicht das einzige, was ihn noch davor bewahrte, tatsächlich den Verstand zu verlieren. Er stand einem Mann gegenüber, der kein Mann war, sondern eine grauenerregende Karikatur eines Menschen, die aus Tausenden winziger Insekten bestand, und das konnte nur eine Halluzination sein. Kenneally wich wieder zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Fensterscheibe stieß, und führte die Bewegung seiner rechten Hand verspätet zu Ende. Die Mündung der Pistole richtete sich auf Smith' Gesicht.
»Was willst du?« fragte er. Es machte ihm nichts aus, mit einer Halluzination zu sprechen. Ganz im Gegenteil machte es die Situation erträglicher. Er konnte mit der Vorstellung leben, den Verstand verloren zu haben und sich das alles nur einzubilden. Mit der, daß es wirklich geschah, nicht. Ganz bestimmt nicht.
Ich bin gekommen, um dich zu warnen. Es ist noch nicht zu spät. »Zu spät? Wofür?«
Die Gestalt kam näher, aber sie tat es eigentlich, ohne sich wirklich zu bewegen – das hieß, sie machte keine Schritte, oder irgendeine andere Art von Bewegung, wie Kenneally sie jemals gesehen hätte. Es war ein gräßliches Fließen und Gleiten, als bestünde der Körper aus flüssigem Protoplasma, das nur von einer dünnen weichen Haut zusammengehalten wurde. Kenneally versuchte um die gleiche Distanz zurückzuweichen, aber hinter ihm war nur noch das Fenster. Das Glas knackte, als er sich mit aller Kraft dagegenpreßte, und eigentlich hätte es unter dem Druck zerbrechen müssen.
Du darfst nicht weiter auf diesem Weg gehen, wisperte die Stimme in seinen Gedanken. Es ist noch nicht zu spät. Sieh, welchen Preis ich bezahlt habe.
»Du bist nicht Smith«, sagte Kenneally überzeugt. In seiner Stimme war ein hysterischer, schriller Ton, der ihn selbst erschreckte. »Smith würde mich niemals warnen. Vor nichts.«
Ich war niemals dein Freund, gestand das Smith-Ding ruhig. Aber die Dinge haben sich geändert. Die Welt hat sich geändert, Kenneally. Die Zeit der Lügen ist vorbei. Ich habe mich entschieden, schon vor langer Zeit, und ich habe den Preis bezahlt. Mein Leben war Tod, und die Strafe ist das, was ich gelebt habe. Hunderttausendfach. Sieh!
Die Gestalt machte wieder einen dieser gräßlichen fließenden Schritte, und das war mehr, als Kenneally ertragen konnte. Er schrie auf und drückte ab, zwei-, drei-, sechsmal hintereinander, bis die Waffe leergeschossen war. Die Schüsse hallten in dem leeren Korridor wider wie Kanonenschläge, und sie trafen alle. Smith war zu nahe, um ihn zu verfehlen. Die Kugeln stanzten in sein Gesicht und zerfetzten Dutzend, vielleicht Hunderte der winzigen lebenden Puzzleteile, aus denen es zusammengesetzt war.
Die brodelnden Arme hoben sich. Hände und Gesicht wurden eins, verschmolzen zu einer einzigen zitternden Masse und barsten wieder auseinander, und als er die Hände senkte, war sein Gesicht wieder unversehrt. Es war unmöglich, die Anzahl der Kreaturen zu schätzen, die sich zu der Nachahmung einer menschlichen Gestalt zusammengefunden hatten, aber es konnten hunderttausend sein. Ebensogut aber auch nur fünfzigtausend oder eine Million. War es das, was Smith meinte? Mußte er hunderttausendmal sterben, um für ein Leben zu bezahlen?
Kehr um, fuhr Smith fort. Geh nicht dort hinüber. Du wirst bezahlen, für alles, was du getan hast, und auch für das, was du nicht getan hast, aber der Tod ist nicht das, wofür du ihn hältst. Die Zeit der Gnade ist ebenso vorbei wie der Lüge und des Verzeihens. Du darfst Salid und die anderen nicht länger verfolgen, oder das, was dir widerfährt, wird millionenmal schlimmer sein als mein Schicksal. Laß sie gehen!
»Warum?« schrie – nein, kreischte – Kenneally. Etwas in ihm wollte zerbrechen. Zwischen seinen Schläfen befand sich plötzlich eine Stahlfeder, die mit unerträglicher Kraft zusammengepreßt worden war. Warum starb er nicht einfach?
Weil Salid der sein wird, der dich richtet, antwortete Smith. Und damit drehte er sich herum und ging langsam davon. Nach nur zwei oder drei Schritten sog ihn die Dunkelheit im hinteren Teil des Korridors auf, aber Kenneally stand noch lange da und starrte in die Richtung, in der die furchtbare Erscheinung verschwunden war.
Schließlich fiel sein Blick auf den Boden, dorthin, wo Smith gestanden hatte. Seine Schüsse hatten doch Schaden angerichtet. Dutzende fingernagelgroßer, zermalmter Insekten bedecken den Boden, winzige Geschöpfe mit zerborstenen Panzern, abgerissenen Gliedmaßen und zerfetzten Flügeln. Eines der winzigen Geschöpfe lebte noch, denn es zuckte ununterbrochen mit den beiden vorderen seiner drei Beinpaare, und die winzigen Scheren an seinem Schädel öffneten und schlossen sich in einem beständigen, vom Takt der Agonie bestimmten Rhythmus. Kenneally hob den Fuß und zermalmte es mit aller Kraft, die er aufbringen konnte.
Smith hatte ein weiteres Hunderttausendstel seiner Schuld bezahlt.
Am Ende war es ihrem Fahrer doch irgendwie gelungen, die Kontrolle über den Wagen zu erringen; das Fahrzeug lief zwar alles andere als ruhig, rollte aber doch in gleichmäßigem Tempo dahin, und der Motor kreischte nicht mehr wie ein gequältes Tier. Salid hatte sich eine Weile mit dem Fahrer unterhalten, leise und ohne daß Brenner die Worte verstanden hätte; er hätte wohl auch nicht hingehört. Johannes und er saßen nebeneinander und in der gleichen Haltung auf der unbequemen Bank: nach vorne gebeugt, mit hängenden Schultern und Köpfen, die Ellbogen auf den Knien aufgestützt und jeder für sich in seine eigenen Gedanken versunken.
Das gleichmäßige Schaukeln des Wagens begann eine einschläfernde Wirkung auf Brenner auszuüben. Seine Lider wurden schwer, und es kostete ihn immer mehr Kraft, die Augen aufzuhalten. Die Verlockung, sich einfach in die warme Umarmung des Schlafs fallen zu lassen, wurde mit jeder Sekunde stärker.