Ein kleinerTeil seines Bewußtseins wunderte sich, daß er in einem Moment wie diesem an Schlaf auch nur denken konnte; aber nur ein sehr kleinerTeiclass="underline" der, der schon vor einer geraumen Weile an der Wirklichkeit verzweifelt hatte und überhaupt der Überzeugung war, daß es sich bei alledem hier nur um einen Alptraum handeln konnte – einen von der besonders unangenehmen, hartnäckigen Sorte derer, die niemals enden und nach dem Aufwachen höchstens schlimmer werden statt besser. Zugleich gab es da noch einen anderen noch kleineren – Teil in ihm, der ihm klarzumachen versuchte, daß schon dieser Gedanke höchst lächerlich war, und darüber hinaus
Brenner schüttelte heftig den Kopf, blinzelte ein paarmal übertrieben rasch und atmete hörbar tief und lange ein. Es war sehr kalt im Wagen, und die eisige Luft sollte eigentlich dafür sorgen, daß hinter seiner Stirn wieder Klarheit herrschte. Aber es nutzte nichts. Seine Gedanken führten noch immer einen irrenTanz auf, der eher schlimmer zu werden schien, je verbissener er versuchte, sie zu ordnen.
»Einen Penny für Ihre Gedanken«, sagte Salid plötzlich. Brenner sah auf. Salid lächelte.
»Wie?«
Salid machte eine wegwischende Geste mit der linken Hand. »Eine amerikanische Redewendung«, sagte er. Wergessen Sie's.«
»Ich weiß«, antwortete Brenner. »Ich wundere mich nur, daß ausgerechnet Sie Amerikanismen benutzen.« »Gewohnheit«, erwiderte Salid. Er zuckte mit den Schultern und lächelte wieder, aber es war plötzlich kein sehr angenehmes Lächeln mehr; nur noch ein Verziehen des Gesichts, dem das Gefühl, das eigentlich dahinterstehen sollte, vollkommen abging. »Vielleicht ist das der Grund, aus dem ich die Amerikaner so hasse.«
»Weil Sie ihre Redewendungen benutzen?«
»Weil sie sich die ganze Welt untertan zu machen versuchen«, antwortete Salid. Er sprach plötzlich lauter, nicht einmal unfreundlich oder gar zornig, aber doch eine Spur schärfer als bisher, und in seinen Augen war mit einem Male ein harter, fast erschreckender Glanz. Hätte Brenner Platz genug dazu gehabt, wäre er instinktiv ein Stück von dem Palästinenser weggerückt. Zum erstenmal seit langer Zeit wieder wurde ihm bewußt, mit wem er hier eigentlich im Wagen saß.
»Ich … verstehe nicht«, sagte er.
»Nein?« fragte Salid höhnisch. »Tun Sie das nicht? Wirklich nicht, oder wollen Sie es nur nicht verstehen?«
Brenner sagte nichts mehr; es tat ihm bereits leid, das Thema überhaupt angesprochen zu haben – dies war wirklich nicht die Situation, sich mit Salid auf eine politische Grundsatzdiskussion einzulassen. Aber es war auch zu spät. Salid sprach von sich aus und ohne Brenners Zutun weiter; und das hätte er vermutlich selbst dann getan, wenn Brenner einfach aufgestanden und weggegangen wäre.
»Machen Sie die Augen auf! Sehen Sie sich doch um! Hören Sie! Sie beherrschen unsere Sprache. Sie beherrschen unser Denken. Ihre Produkte überschwemmen unsere Märkte und ihre Fernsehserien unsere Bildschirme. Ihre Art zu leben – «
»– ist ihre Art«, unterbrach ihn Brenner. »Niemand zwingt Sie oder sonst jemanden, sie anzunehmen.«
»Aber wir tun es«, erwiderte Salid heftig. »Diese Nation ist … schlimmer als alles, was dieser Welt je zugestoßen ist. Wo
immer sie auftauchen, beherrschen sie das Leben der Leute. Mit ihrer Coca-Cola. Mit ihren Autos. Ihrem American Way of Life. «
Brenner schüttelte nur den Kopf. »Sie sind dreißig Jahre zu spät dran, Salid«, sagte er.
»Ja, vielleicht«, antwortete Salid. »Vielleicht ist es nicht einmal deren Schuld. Vielleicht haben Sie recht, und wir sind es, die wir uns diese Art zu leben aufzwingen lassen.«
»Tun wir das?« fragte Brenner – obwohl er die Antwort im Grunde kannte. Salid hatte recht – auf seine Weise. Zugleich erlag er einem furchtbaren Irrtum; aber sonderbarerweise schloß das eine das andere in diesem Falle nicht einmal aus.
»Ja! « erwiderte Salid heftig. »Jedenfalls die meisten. Aber ich nicht. Ich weigere mich, ein Leben zu führen, das ich nicht führen will! «
Vielleicht verstand Brenner in diesem Moment zum erstenmal wirklich, warum Salid zu dem geworden war, was er war. »Niemand zwingt Sie dazu«, antwortete er – obwohl er wußte, wie sinnlos es war. Er hatte tatsächlich – wenn auch nur für einen kurzen Moment – angefangen, zu vergessen, was Salid war, aber er gemahnte sich innerlich zur Vorsicht. Eine solche Nachlässigkeit konnte unter diesen Umständen durchaus tödlich enden. Er kannte Salids Geheimnis jetzt. Es war so simpel wie monströs, wenn man bedachte, zu welchen Konsequenzen es letztendlich geführt hatte: Salid suchte einfach jemanden, gegen den er kämpfen konnte. Wäre er in diesem Land geboren, wäre er vielleicht ein Mitglied der RAF oder einer ähnlichen Organisation geworden, in Irland vielleicht ein führender Kopf der IRA und in den Staaten möglicherweise ein Mitglied des Ku-Klux-Klan. Es spielte für Salid keine Rolle, gegen wen er kämpfte. Vielleicht hatte es einen Mann wie ihn gebraucht, um diesen Kampf hier zu führen: einen Kampf ohne Aussicht auf Erfolg, ohne die geringste Chance auf einen Sieg – und wenn er ehrlich war, auch ohne die geringste Chance, ihn zu überleben. Er fragte sich nur, welche Rolle er, Brenner, in diesem Kampf spielte.
Vielleicht, weil er das Gespräch nicht weiterführen wollte, vielleicht aber auch, weil er Angst vor der Antwort auf seine Fragen hatte, stand er auf und ging gebückt an Salid und Johannes vorbei nach vorne. Der Mann hinter dem Steuer sah flüchtig auf und machte dann eine Kopfbewegung auf den Beifahrersitz. Wahrscheinlich hatte er gehört, was Salid und Brenner miteinander besprochen hatten; vielleicht sah man ihm den aufgewühlten Zustand, in dem er sich befand, auch einfach an.
Brenner bedankte sich mit einem flüchtigen Nicken für die Einladung und leistete ihr Folge. Ein ganze Weile saßen sie schweigend nebeneinander, dann sagte der Fremde plötzlich: »Er ist schwierig.«
Brenner, dessen Gedanken mittlerweile schon wieder begonnen hatten, eigene Wege zu gehen, hatte im ersten Moment Mühe, die Frage überhaupt zu verstehen. Dann nickte er, wobei er gerade noch dem Impuls widerstand, sich zu Salid herumzudrehen. »Sie meinen … Salid?«
»Er ist dieserTerrorist, nicht?«
Unter allen anderen denkbaren Umständen wäre es einfach grotesk gewesen, auch nur anzunehmen, daß der Mann, der ihnen vermutlich allen das Leben gerettet hatte, nicht einmal genau wußte, wer sie waren. Jetzt erschien es Brenner auf eine sonderbare Weise sogar logisch. Ohne seine Frage zu beantworten, fragte er: »Wie ist Ihr Name?«
»Heidmann«, antwortete der Fremde. »Aber das spielt keine Rolle mehr. Ich war einmal Polizist … Es ist lange her.« Brenner vermutete, daß es ungefähr eine Stunde her war; allerhöchstens. »Und was sind Sie jetzt?« fragte er.
Der andere zuckte mit den Schultern, und die Bewegung übertrug sich über seine Hände, die mit viel zuviel Kraft das Lenkrad hielten, bis auf die Räder. Der Wagen machte einen sanften Schlenker nach links und einen etwas weniger sanften nach rechts, ehe Heidmann ihn wieder vollends in der Gewalt hatte. »Auf jeden Fall ein schlechter Autofahrer«, sagte er lächelnd.
Brenner blieb ernst. »Warum helfen Sie uns?« fragte er.
Er bekam nicht sofort eine Antwort. Heidmann starrte eine geraume Weile einfach vor sich ins Leere. Aber Brenner hatte das sichere Gefühl, daß er es nicht nur tat, um in dem Schneegestöber, das inzwischen eingesetzt hatte, die Straße erkennen zu können. Schließlich sagte er: »Ich denke, weil ich mich für das Leben entschieden habe.«
Das war eine sehr sonderbare Antwort – direkt unheimlich, fand Brenner. Vor allem, wenn sie aus dem Mund eines Mannes kam, der nach allem, was er von Medizin zu verstehen glaubte, eigentlich tot sein müßte. Er betrachtete Heidmanns Gesicht im grünen Widerschein des Armaturenbrettes genauer; nicht heimlich und aus den Augenwinkeln, sondern ganz offen, so daß dieser es bemerken mußte. Wenn es ihn störte, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken.
Heidmanns Gesicht war eindeutig das eines lebenden Menschen, nicht eines Zombies. Die klaffende Wunde auf seiner Wange war schlimm, aber nicht lebensgefährlich; wahrscheinlich nicht einmal wirklich gefährlich. Aber sein Mantel war vorne auseinandergefallen, jetzt, wo er saß, und Brenner konnte erkennen, daß der dunkle Fleck auf seinem Hemd ein noch dunkleres Zentrum hatte: einen kreisrunden, gut zehnpfenniggroßen Krater, der mit geronnenem Blut gefüllt war. Das passende – größere – Gegenstück befand sich auf Heidmanns Rücken. Sein Mantel war schwarz von Blut, aber auch verkohlt. Der Mann hatte einfach kein Recht mehr, zu leben. Er tat es trotzdem.