Eine Hand streckte sich ihm entgegen, als er den Helikopter erreichte. Kenneally griff dankbar danach, hielt sich mit der anderen Hand am Türrahmen fest und zog sich mit einer letzten Kraftanstrengung ins Innere der Maschine – um prompt endgültig die Balance zu verlieren und schmerzhaft auf ein Knie herabzufallen, denn der Pilot ließ den Hubschrauber wieder aufsteigen, noch bevor er ganz in der Kabine war.
Kenneally kroch mit einer ebenso ungeschickten wie hastigen Bewegung ein Stück weiter, während der Mann, der ihm geholfen hatte, rasch die Tür schloß. Durch das große Fenster darin konnte Kenneally erkennen, wie schnell sie an Höhe gewannen. Die Lautlosigkeit, mit der dies geschah, war beinahe gespenstisch. Hier drinnen war der Motorenlärm fast überhaupt nicht mehr zu hören.
Er wollte sich aufrichten, sank aber mit einem überraschten Laut wieder zurück und hielt sich das linke Knie, auf das er gefallen war. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen. Kenneally wartete einige Sekunden, dann stemmte er sich mit zusammengebissenen Zähnen auf die Sitzbank hoch. Sein linkes Bein pochte erbärmlich, und für eine Sekunde war der Schmerz so schlimm, daß ihm übel wurde. Zugleich kam es ihm fast grotesk vor – er hatte doch nicht wirklich all dies überstanden, um sich dann beim Einsteigen in einen Hubschrauber das Bein zu brechen, oder?
»Alles in Ordnung?«
Kenneally nickte und umklammerte mit beiden Händen sein Knie, ehe er den Kopf hob und sein Gegenüber ansah. Er erlebte eine Überraschung. Er hatte die Stimme erkannt, obwohl sie sich anders anhörte als amTelefon, aber das Gesicht, in das er blickte, paßte nicht zu ihr. Die Stimme, die sein Leben in den letzten fünfzehn Jahren weit mehr beeinflußt hatte, als ihm bis heute überhaupt klargewesen war, war die eines alten – oder zumindest älteren – Mannes, volltönend und von einer Autorität erfüllt, die Assoziationen von weißem Haar und starken Händen weckte, aber was er sah, war das genaue Gegenteil. Sein Gegenüber war keinenTag älter als fünfunddreißig – allerhöchstens – und dunkelhaarig, dazu sehr schlank und von einer fahrigen Nervosität, die Kenneally selbst jetzt spüren konnte, obwohl der Mann regungslos auf der Bank saß und ihn beobachtete. Er sah ein wenig übernächtigt aus, und obgleich er die Hände fest auf die Oberschenkel gelegt hatte und sie nicht bewegte, schienen sie unmerklich zu zittern.
»Sie sind Kenneally.«
Kenneally nickte erneut. Er sagte auch jetzt noch nichts vielleicht, weil er einfach noch Zeit brauchte, um das, was er sah, zu verarbeiten. Er hatte geglaubt, einer Autorität zu dienen, einer grauen Eminenz im Hintergrund, aber das war …
Großer Gott, als er das erste Mal mit ihm gesprochen hatte, da konnte der Bursche noch kaum mehr als ein Kind gewesen sein! »Ich glaube, Sie sind mir ein paar Erklärungen schuldig«, sagte er gepreßt. Seine Stimme zitterte, weil sein Knie mittlerweile tatsächlich so erbärmlich schmerzte, daß er sich langsam zu fragen begann, ob er sich vielleicht wirklich etwas gebrochen hatte. Das machte ihn wütend; sein Gegenüber mußte annehmen, daß es Unsicherheit war – womit er der Wahrheit vielleicht näher kam, als Kenneally lieb war.
Zu seiner Überraschung antwortete der junge Mann jedoch sehr ernst: »Das stimmt. Sie werden alles erfahren. Aber zuerst beantworten Sie mir eine Frage: Wie konnte er entkommen?« »Woher wissen Sie, daß er entkommen ist?«
»Sie wären nicht hier, wenn Sie Ihren Auftrag erfüllt hätten«, antwortete der andere. In seiner Stimme war nicht einmal eine Spur von Tadel oder auch nur Bedauern. Alles, was Kenneally zu hören glaubte, war etwas wie Resignation. Eine Winzigkeit leiser-und eigentlich mehr zu sich selbst gewandt als an Kenneally – fügte er hinzu: »Außerdem hatten Sie von Anfang an wahrscheinlich keine Chance.«
»Wenn Sie das wußten – «
»Bitte!« Der Mann, dessen Namen er immer noch nicht wußte, hob besänftigend beide Hände, und Kenneally sah, daß sie tatsächlich zitterten. Es waren sehr schlanke Hände; wie das Gesicht das Gegenteil dessen, was er erwartet hatte: die Hände eines sehr sanften Mannes.
»Ich werde Ihnen alles erklären – soweit unsere Zeit reicht. Ich fürchte nur, daß uns weniger bleibt, als nötig wäre, alle Ihre Fragen zu beantworten. «
Kenneally wurde nun wirklich zornig, woran nicht zuletzt auch der immer noch anhaltende Schmerz in seinem Bein Schuld war. »Die Zeit werden Sie sich nehmen müssen«, sagte er scharf. »Sie wollen, daß ich einen Mann für Sie töte?« Er lachte. »Nehmen Sie es mir nicht übel … aber ich finde, daß Sie mir wenigstens sagen sollten, warum! «
»Sie haben gewiß recht«, antwortete der andere. »Das Problem ist nur, daß uns einfach nicht genug Zeit bleibt.« Er sah auf die Uhr, runzelte die Stirn und schob den Ärmel mit einem angedeuteten Achselzucken wieder zurück. »Kaum mehr als fünf Minuten, wenn nicht weniger.«
»Bis wann?« fragte Kenneally.
»Bis wir das Kloster erreichen«, antwortete der andere. »Unser Ziel.«
»Das Kloster?«
»Es hat dort begonnen. Es … muß wo hl auch dort enden.« Einen Moment lang schien sein Blick ins Leere zu gehen. Er blickte Kenneally weiter an, aber dieser war sicher, daß er in Wahrheit etwas ganz anderes sah. Und er war nicht sehr erpicht darauf, zu erfahren, was.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Kenneally – selbst für seinen Geschmack eine Spur zu schnell, um überzeugend zu klingen. Er fuhr auf. »Was, zur Hölle, hat das alles mit Smith zu tun? Wer sind Sie überhaupt? Ich … verdammt, ich weiß ja nicht einmal Ihren Namen! «
Der andere lächelte, und sonderbarerweise sah er dadurch plötzlich viel älter aus statt jünger, wie es bei einem normalen Lächeln sein sollte. »Mein Name? Der tut nichts zur Sache … nicht mehr. Aber Sie können mich Adrianus nennen, wenn Sie wollen. «
»Adrianus? Was ist das für ein Name?«
»Der Name eines meiner Lehrer«, erwiderte der andere. »Nicht meiner. Aber er paßt, und er ist so gut wie jeder andere. Unsere Bekanntschaft wird nicht von langer Dauer sein … so oder so. Sie haben gesehen, wie Smith starb?«
»Nein«, erwiderte Kenneally heftig. Er schrie das Wort fast. »Ich will nicht wissen, was Sie gesehen haben«, antwortete Adrianus. »Aber was immer es war, es ist die Antwort auf alle Ihre Fragen, Kenneally. Wir haben es hier nicht mit einemTerroristen zu tun oder irgendeinem der Verbrecher, die Sie normalerweise jagen. Möglicherweise wird das Schicksal dieser Welt in Ihren Händen liegen, wenn wir unser Ziel erreichen. Haben Sie eine Waffe?«
Kenneally griff ganz automatisch in die Jackentasche und zog seine Pistole hervor, beendetet die Geste jedoch nicht, sondern ließ die Waffe mit einer fast trotzigen Bewegung wieder zurückgleiten. Adrianus hatte sie allerdings trotzdem gesehen. Er runzelte flüchtig die Stirn, stand auf und öffnete eine Metalltür, die in der Wand über Kenneallys Kopf eingelassen war. Kenneally erhaschte einen flüchtigen Blick auf einen Waffenschrank, in dem sich mindestens ein halbes Dutzend Gewehre sowie eine große Anzahl Faustfeuerwaffen befand. Adrianus nahm mit einer sehr zielgerichteten Bewegung ein wuchtiges M13 sowie eine kurzläufige Maschinenpistole mit zwei rechtwinklig zueinander angeordneten Magazinen heraus und legte beides neben Kenneally auf den Sitz.
»Das wird genügen«, sagte er.
»Wofür?« Kenneally musterte die beiden Waffen mißtrauisch und streckte die Hand nach der MPi aus, griff aber dann statt dessen nach dem M13– Mit einer routinierten Bewegung zog er das Magazin heraus und betrachtete die Munition. Mit spitzen Fingern nahm er eine der Patronen heraus und runzelte die Stirn. Das großkalibrige Geschoß schimmerte in einem stumpfen Graphitgrau und war an der Spitze kreuzförmig eingekerbt. Kenneally hatte diese Art von Munition noch nie selbst benutzt, aber natürlich kannte er sie. Und er fürchtete sie. Kugeln wie diese durchschlugen das Ziel nicht, sie zerfetzten es. Ganz gleich, worum es sich handelte. Mit dieser Waffe konnte man niemanden kampfunfähig machen, sondern nur töten. Angewidert schob er die Patrone wieder ins Magazin.