»Was soll das?« fragte er. Er hatte Mühe, seinen Zorn im Zaum zu halten. »Wofür halten Sie mich? So etwas benutzten vielleicht Männer wie Salid, aber ich nicht! «
Adrianus setzte sich wieder. Er warf einen Blick auf seine nutzlose Armbanduhr, ehe er Kenneally wieder ansah, und er tat es auf eine Art, als wolle er ihn eigentlich fragen, wo denn dieser große Unterschied zwischen Männern wie Salid und Männern wie Kenneally sei. Allerdings war er klug genug, diese Worte nicht laut auszusprechen.
»Jetzt ist nicht der Moment, um über Ethik zu sprechen oder gar Fairneß«, sagte er. »Sie müssen Salid und die anderen unschädlich machen, und es spielt keine Rolle, wie.«
»Warum?« fragte Kenneally. Als er keine Antwort bekam, fügte er hinzu: »Wer sind Sie, Adrianus. Was sind Sie?«
Er hatte nicht wirklich damit gerechnet, eine Antwort zu bekommen, und es vergingen auch einige Sekunden, ehe Adrianus reagierte. Als er schließlich sprach, redete er sehr leise und in einemTon, den Kenneally nicht deuten konnte, der ihm aber ein eisiges Frösteln über den Rücken laufen ließ.
»Wir sind eine Art … Wächter«, sagte er zögernd. »Ich und … einige andere.«
»Andere? Welche anderen?« Kenneally beugte sich im Sitz vor. »Hat Smith zu euch gehört?«
»Smith?« Adrianus schüttelte den Kopf. Allein die Vermutung schien ihn zu amüsieren. »Nein. Smith wußte wenig mehr als Sie, Kenneally. Wir … sind nicht viele. Nur eine Handvoll. Aber es gibt viele, die für uns arbeiten, und noch mehr, die für die arbeiten, die uns dienen. Unsere Aufgabe ist von unvorstellbarer Wichtigkeit.« Er schwieg eine Sekunde und fügte dann, leiser und wieder mit diesem auf so unheimliche Weise ins Leere gerichteten Blick hinzu: »Sie wollen wirklich die Wahrheit wissen, Kenneally?«
Kenneally beugte sich noch weiter vor und mußte hastig seine Haltung korrigieren, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Ja«, sagte er.
»Sie wird Ihnen nicht gefallen.«
»Was mir noch viel weniger gefällt, sind Plattheiten«, erwiderte Kenneally zornig. Er deutete heftig gestikulierend auf die beiden Waffen auf dem Sitz neben sich. »Sie wollen, daß ich einen Menschen für Sie umbringe? Ich glaube nicht, daß mir das gefällt. Schon gar nicht, ohne zu wissen, warum.« Das war die falsche Taktik. Adrianus hatte seine Deckung für den Bruchteil einer Sekunde sinken lassen, und Kenneally hatte den Mann gesehen, der sich dahinter verbarg: einen schwachen, zutiefst verängstigten Mann, der im Grunde nichts
anderes suchte als Hilfe. Aber er war kein Mann, der sich unter Druck setzen ließ. Kenneally hätte sich ohrfeigen können. Er schien alles vergessen zu haben, was er je gelernt hatte.
»Erzählen Sie mir nicht, daß das etwas Neues für Sie wäre«, sagte er kühl. »Wie viele Menschen haben Sie in Ihrem Leben getötet, Kenneally? Zehn? Hundert?«
»Keinen einzigen«, antwortete Kenneally zornig. »Vielleicht nicht mit eigenen Händen«, erwiderte Adrianus. »Aber über wie viele Leben haben Sie entschieden?« »Das … das ist etwas anderes«, verteidigte sich Kenneally. Natürlich war es das nicht, und Adrianus machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten. Es war kein Unterschied, ob man einen Menschen mit eigenen Händen tötete oder den Befehl gab, ein Leben auszulöschen. Vielleicht war es sogar schlimmer, und vielleicht rührte Kenneallys Zorn zum Großteil aus derTatsache her, daß er nun zum erstenmal selbst spürte, wie es war, einen solchen Befehl zu bekommen, statt ihn zu geben. »Ich habe es nie ohne Grund getan«, erklärte er. »Ich wußte, warum.«
»Und Sie haben an diesen Grund geglaubt?« fragte Adrianus. »Seien Sie ehrlich, Kenneally-und sei es zum erstenmal in Ihrem Leben. Sie haben niemals an dem gezweifelt, was Sie taten?«
Hatte er gerade geglaubt, Adrianus in die Enge getrieben zu haben? Lächerlich.
Adrianus seufzte tief, und plötzlich schien alle Kraft aus seinem Körper zu weichen. Er sank regelrecht vor Kenneallys Augen in sich zusammen. Als er weitersprach, flüsterte er nur noch. »Wir waren immer von dem überzeugt, was wir taten«, sagte er. »Wir wußten, daß es richtig war. Verstehen Sie mich richtig, Kenneally – es hatte nichts mit Mutmaßungen zu tun oder einer vagen Möglichkeit. Wir wußten stets, daß es irgendwann passieren würde, nur nicht genau, wann und wo. Aber wir dachten, wir wären vorbereitet.«
Er legte eine kurze Pause ein, und diesmal war Kenneally klug genug, ihn nicht zu unterbrechen. Adrianus wollte reden.
Was er zu sagen hatte, war so wichtig, daß er es mit jemandem teilen mußte, sollte der Druck nicht zu unerträglich werden. Nach einer Weile fuhr er fort.
»O ja, wir dachten, wir wären vorbereitet. Seit so langer Zeit … Aber wir haben versagt. Vielleicht hatten wir nie wirklich eine Chance. Glauben Sie, daß es Dinge gibt, die zum Scheitern verurteilt sind, schon allein dadurch, daß man sie beginnt, Kenneally?«
Kenneally nickte stumm. Plötzlich hatte er das Gefühl, daß er gar nicht mehr wissen wollte, was Adrianus ihm zu erzählen hatte.
»Sie wollen wissen, worum es geht«, fuhr Adrianus fort. Er hatte sich wieder gefangen; nicht vollständig, aber doch weit genug, um sich wieder im Sitz aufzurichten und Kenneallys Blick ruhig standzuhalten. »Ja, ich glaube, Sie haben ein Recht dazu, es zu erfahren. Sie müssen diese Männer töten, Kenneally. Alle drei, wenn es möglich ist. Ehe eines ihrer Siegel gebrochen wird. «
Kenneally wurde hellhörig. Das war eine sehr sonderbare Wortwahl, fand er – aber sie kam gewiß nicht von ungefähr. »Warum?« fragte er. »Was haben sie Ihnen getan?«
Adrianus lächelte traurig. »Was immer«, sagte er, »diese drei in ihrem Leben auch getan haben mögen, es hat nichts mit dem zu tun, weshalb wir hier sind, Kenneally. Sehen Sie, das ist vielleicht der Preis, den ich zu zahlen habe. Ich gebe Ihnen den Befehl, drei unschuldige Leben auszulöschen, und ich allein werde die Verantwortung dafür tragen müssen. Nicht Sie. Ich erteile Ihnen die Absolution, Kenneally, soweit ich das kann. Es ist meine Verantwortung. Was immer uns erwartet, wenn … es vorbei ist: Ich werde vor meinem Richter stehen, nicht Sie.« Kenneally war nicht einmal sicher, ob er Adrianus' Worte richtig verstand, aber wenn er es tat und all dieses Gerede von Absolution, von Verantwortung und dem Letzten Gericht in religiösem Sinne gemeint war, dann war es nicht so einfach. Ganz und gar nicht. Außerdem: Kenneally glaubte nicht einmal an Gott. Er war das Kind überzeugter Atheisten, und er hatte
sich diese Überzeugung zu eigen gemacht, seit er selbständig denken konnte.
»Und wenn ich mich weigere?« fragte er. »Sie haben es selbst gesagt: Die drei sind unschuldig – obwohl das dummes Zeug ist, wenigstens, was Salid angeht. Der Mistkerl hat mehr Menschen auf dem Gewissen, als ich in meinem Leben Hot Dogs gegessen habe.« Er machte eine abwehrende Bewegung, als Adrianus widersprechen wollte. »Also, was, wenn ich mich weigere? Sie haben vielleicht recht, und ich habe Menschenleben ausgelöscht, aber ich habe es nie grundlos getan.«
»Es gibt einen Grund«, antwortete Adrianus ernst. »Aber er heißt nicht Salid. Es ist das Kloster, Kenneally. Der, der darin eingekerkert war. Und der nun frei ist.«
»Wer?« fragte Kenneally. »Von wem sprechen Sie, Adrianus?«
Adrianus sah ihn länger als eine Minute schweigend und durchdringend an. Dann sagte er es ihm.
Die Straßensperre, von der Heidmann gesprochen hatte, war tatsächlich da, aber sie hielt sie nicht auf, und auch Brenners Überlegungen, wie der Polizeibeamte sein sonderbares Äußeres erklären wollte, erwiesen sich als überflüssig. Die beiden quergestellten Geländewagen, die die Straße blockierten, waren ebenso verlassen wie der improvisierte Lagerplatz, den sie ein Stückweit dahinter fanden: ein leeres Benzinfaß, in dessen näherem Umkreis der Schnee geschmolzen war und das noch verbrannt roch. Salid, der ausgestiegen war, um sich umzusehen, kam mit einem Gewehr und drei Reservemagazinen zurück, und als sie weiterfuhren, sah Brenner weitere weggeworfene Gegenstände im Schnee am Straßenrand liegen. Offenbar war die Sperre in aller Hast verlassen worden – um nicht zu sagen, die Männer, die hier Dienst getan hatten, waren geflohen. Brenner fragte sich nicht, wovor. Er wollte es lieber nicht wissen.