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In brütendes Schweigen versunken, fuhren sie weiter. Salid beschäftigte sich intensiv damit, die gefundene Waffe auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, wobei er jedes einzelneTeil pedantisch sauberwischte und mehrmals auf seine Funktion überprüfte. Johannes starrte weiter ins Leere. Vorhin, kurz bevor sie auf Heidmann gestoßen waren, hatte es für einen Moment so ausgesehen, als erwache er noch einmal aus dem unheimlichen Zustand, in den er versunken war, aber Brenner glaubte mittlerweile nicht mehr daran, daß Johannes' Geist noch einmal den Weg zurück aus seiner ganz privaten Hölle finden würde. Er war verdammt. Er hatte das Schlimmste getan, das ein Mann wie er tun konnte, und er zahlte den Preis dafür. Nicht irgendwann, nicht nach irgendeinem jüngsten Gericht, sondern hier und jetzt.

Vielleicht war er von ihnen dreien am besten dran.

Nach einer geraumen Weile hielt er die Untätigkeit einfach nicht mehr aus. Er stand auf und ging wieder nach vorne, setzte sich diesmal aber nicht auf den freien Platz neben Heidmann, sondern stützte sich mit beiden Händen auf der Rückenlehne seines Sitzes auf und beugte sich vor, um durch die beschlagene Windschutzscheibe einen Blick in den Himmel hinauf zu werfen. Brenner wußte nicht, wie lange sie jetzt unterwegs waren, und er wußte auch nicht mehr, inwieweit er seiner inneren Uhr noch trauen konnte; aber es mußten Stunden vergangen sein, seit sie das Krankenhaus verlassen hatten. Es hätte längst hell sein müssen.

»Es ist jetzt nicht mehr weit«, sagte Heidmann. »Dort vorne halte ich an.«

Brenners Blick folgte der Richtung seiner Kopfbewegung, und Brenner erlebte eine Überraschung. Im ersten Moment hatte er nicht einmal verstanden, was Heidmann überhaupt meinte, aber plötzlich erkannte er die Straße wieder – die langgezogene, leicht abfallende Kurve, den verschneiten Waldrand zu beiden Seiten, und die dreieckige, kaum sichtbare Lücke im Unterholz, nur noch hundert Meter entfernt auf der linken Seite. Vor zwei oder drei Minuten mußten sie die Stelle passiert haben, an der das Mädchen und er mit dem Mitsubishi liegengeblieben waren. Dort vorne begann der Weg, der zum Kloster führte.

»Ich kann Sie nicht weiter begleiten«, sagte Heidmann. »Ich weiß«, antwortete Brenner. Der Weg war für einen Wagen nicht passierbar, aber das war es nicht, was Heidmann gemeint hatte. Seine Aufgabe war erfüllt. Er hätte sie auch nicht weiter begleitet, wenn dort vorne eine vierspurige Autobahn durch den Wald geführt hätte. »Aber Sie haben mir immer noch nicht geantwortet. «

Heidmann sah ihn fragend an.

»Ohne Sie hätten wir es nicht geschafft«, sagte Brenner. »Warum haben Sie das getan?«

»Weil ich es Ihnen schuldig war«, antwortete Heidmann. Mehr nicht. In seiner Stimme war kein Pathos. Er lächelte weder, noch machte er irgendeine erklärende Geste oder sonst etwas, aber das war auch nicht nötig. Brenner verstand auch so, was er meinte. Vielleicht war diese Antwort sogar die einzige, die er überhaupt akzeptiert hätte.

Er ging zu Salid und Johannes zurück, sagte aber nichts, sondern wartete, bis der Palästinenser von sich aus zu ihm hochsah. »Wir sind da?«

Brenner nickte. »Den Rest des Weges müssen wir laufen.« Er deutete auf Johannes. »Was ist mit ihm? Schafft er es?«

Salid zuckte mit den Schultern, aber als er aufstand, erhob sich auch Johannes und trat neben ihn. Es war ein durch und durch unheimlicher Anblick: Johannes' Augen blieben so leer, wie sie seit einer Stunde waren, und seine Bewegungen wirkten irgendwie … falsch. Kaum mehr wie die eines lebenden Menschen, sondern vielmehr wie die eines Roboters, perfekt imitiert und trotzdem nicht vollends überzeugend.

Es wäre besser, wenn sie ihn hierlassen würden, überlegte Brenner. Besser für Johannes, und wahrscheinlich auch besser für sie – vor allem besser für sie. Ohne daß er eine entsprechende Frage stellen mußte, spürte er, daß hinter SalidsStirn die gleichen Überlegungen abliefen. Aber weder er noch Salid sprach diesen Gedanken aus. Sie waren zu dritt aufgebrochen, und sie würden zu dritt ankommen, so oder gar nicht. Wo immer ihr Ziel lag.

Der Wagen hielt an. Salid stieß die Hecktür auf und sprang ins Freie, noch bevor sie ganz zum Stehen gekommen waren, und für einen Moment fiel er wieder in seine alten Verhaltensmuster zurück: Er stand mit gespreizten Beinen da, ein wenig nach vorne gebeugt und die Waffe im Anschlag. Aber an seinen Bewegungen war plötzlich überhaupt nichts Bedrohliches mehr. Er kam Brenner vielmehr wie ein Kind vor, das Krieg spielte.

»Alles in Ordnung«, rief er. »Ihr könnt aussteigen.« Brenner lächelte flüchtig. Er war ein Kind, das Krieg spielte. Vielleicht war er sein Lebtag lang nichts anderes gewesen. Brenner und Johannes stiegen hintereinander aus, wobei Brenner automatisch seine Hand ausstreckte, um dem Jesuiten zu helfen. Johannes ignorierte die ausgestreckte Rechte jedoch und stieg aus eigener Kraft aus dem Wagen. Der Transporter rollte los, noch bevor Brenner die Türen schließen konnte. Die Räder drehten auf dem spiegelglatt gefrorenen Boden im ersten Moment durch, als Heidmann viel zuviel Gas gab. Als sie schließlich griffen, begann der Wagen zu schlingern, stellte sich quer und sprang dann mit einem Satz wieder in die ursprungliche Richtung.

»Ich hoffe, er kommt lebend an«, sagte Salid kopfschüttelnd. »Gibt eine Menge zwischen hier und der Stadt.«

Das war nicht Heidmanns Problem, dachte Brenner. Er war ziemlich sicher, daß er nicht gegen einen Baum fahren würde. Aber er war nicht sicher, ob es noch eine Stadt gab, bis ihr geheimnisvoller Helfer sie erreichte.

Er wartete, bis der Wagen in der Dunkelheit und dem immer noch anhaltenden Schneetreiben verschwunden war, dann drehte er sich herum und deutete mit einer Kopfbewegung auf den dreieckigen schwarzen Schatten im Wald. Selbst von hier aus, keine fünf Meter mehr entfernt, war der Weg, der dahinter begann, nicht zu erkennen.

Salid runzelte auch nur fragend die Stirn, bewegte sich aber nicht. »Sind Sie sicher?«

»Ich dachte, Sie waren schon mal hier.«

»Ich habe einen anderen Weg genommen«, antwortete Salid. Er machte einen zögernden Schritt, blieb wieder stehen, machte einen weiteren Schritt und runzelte dann anerkennend die Stirn. »Tatsächlich. Perfekt. Wer immer diesen Weg angelegt hat, versteht sein Geschäft.«

Sie nahmen Johannes in die Mitte, als sie in den Wald eindrangen. Brenner hatte erwartet, sich seinen Weg mehr oder weniger in völliger Dunkelheit ertasten zu müssen, aber das Gegenteil war der Falclass="underline" Obwohl die Bäume so dicht standen, daß die Zweige sich über ihren Köpfen zu einem Dach vereinten, war es hier drinnen beinahe heller als draußen auf der Straße. Auch auf dem Waldboden lag Schnee, der das bißchen Licht, das es überhaupt gab, reflektierte, aber es gab zumindest kein Schneetreiben, in dem alles verschwand, was weiter als drei oder vier Meter entfernt war.

Trotzdem beschlich Brenner ein unheimliches Gefühl, das mit jedem Schritt stärker wurde. Vielleicht lag es an der unwirklichen Beleuchtung: Das Licht war kein wirkliches Licht, sondern etwas Graues, irgendwie Träges, das fast lebendig wirkte, auf jeden Fall aber substantiell; etwas konnte sich dahinter verstecken, in seinem Schutz herankriechen und sie belauern, vielleicht, um im richtigen Moment über sie herzufallen und

Brenner verscheuchte den Gedanken. Der Weg wurde von Schatten und Bereichen undurchdringlicher Schwärze flankiert, aber dahinter verbarg sich absolut nichts. Die einzigen Dämonen, die in diesem Wald auf sie warteten, stammten aus ihnen selbst. Die Macht, gegen die sie angetreten waren, hatte es nicht nötig, ihnen einen Hinterhalt zu legen.

Der Weg kam ihm weiter vor als vor drei Tagen, als er ihn zusammen mit Astrid gegangen war. Er konnte sich an eine Biegung erinnern, möglicherweise auch an eine zweite – aber hatte es tatsächlich auch eine dritte und vierte gegeben? Was, wenn sie sich verirrt hatten? Möglicherweise gab es ja mehr als einen Weg, der in diesen verwunschenen Wald hineinführte, oder – viel simpler – die Rettungs-und Bergungsteams, von denen es in den letzten Tagen hier nur so gewimmelt haben mußte, hatten einfach eine weitere Bresche in den Wald geschlagen, und sie waren irgendwo falsch abgebogen. Sollten sie etwa so weit gekommen sein, nur um sich dann kurz vor dem Ziel zu verlaufen – und möglicherweise im Schnee zu erfrieren; keiner von ihnen trug Kleidung, die der Witterung angemessen gewesen wäre. Die Vorstellung war so grotesk, daß er fast laut aufgelacht hätte. Aber zugleich auch furchteinflößend. Die Menschen, die auf grotesk-komische Weise ums Leben gekommen waren, füllten vermutlich sehr viele Gräber.