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»Ich verstehe nicht, daß niemand hier ist«, sagte Salid plötzlich. Der Klang seiner Stimme war wie das Licht, das sie umgab: unwirklich und dumpf und irgendwie nicht so, wie er sein sollte. Trotzdem jagten die Worte Brenner einen Schauer über den Rücken. Er mußte wieder an die verlassene Straßensperre denken und daran, daß sie auf dem gesamten Weg hier heraus keinem einzigen anderen Fahrzeug begegnet waren.

»Es müßte von Polizei und Militär hier nur so wimmeln«, fuhr Salid fort. Er klang beinahe enttäuscht, fand Brenner. »Vielleicht haben sie aufgegeben?«

»Mich zu jagen?« Salid machte ein abfälliges Geräusch. »Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, Brenner – aber haben Sie in den vergangenen Stunden vielleicht das eine oder andere nicht richtig mitbekommen? Sie würden alles tun, um mich zu kriegen. «

»Wir haben ihnen ziemlich zugesetzt«, antwortete Brenner. »Blödsinn.«

Natürlich war es das. Sogar ausgemachter Blödsinn. Vor ein paar Stunden noch hätte Brenner über diese Behauptung gelacht, aber jetzt war er sicher, daß die Männer, die das Haus gestürmt hatten, keine Sekunde zögern würden, diesen ganzen Wald zu bombardieren, wenn sie wüßten, daß sie hier waren.

»Wahrscheinlich suchen sie uns hier nicht«, fuhr er fort. Das klang kaum überzeugender als seine Behauptung von gerade, und Brenner glaubte selbst keine Sekunde daran, daß es so war. Aber zu seiner Überraschung widersprach Salid diesmal nicht.

Vielleicht, weil die andere – die wirkliche – Erklärung schlimmer gewesen wäre.

Sie gingen um eine weitere Biegung, und dann lag das Tor vor ihnen, so plötzlich, daß Brenner um ein Haar dagegengelaufen wäre und erschrocken zurückprallte. Salid wollte die Hand nach den schmiedeeisernen Stäben ausstrecken, aber Brenner hielt ihn hastig zurück.

»Warten Sie«, sagte er. »Als wir das letzte Mal hier waren, stand dieser Zaun unter Strom. «

Salid sah ihn zweifelnd an, trat aber trotzdem selbst einen halben Schritt zurück und sah aufmerksam nach rechts und links. Schließlich zuckte er mit den Schultern hob sein Gewehr und stieß das Tor mit dem Lauf auf. Er achtete allerdings sorgsam darauf, nur den Kunststoffschaft zu berühren, obwohl ihm die schwere Waffe dadurch fast entglitten wäre.

»Sehen Sie?« sagte er. »Kein Strom. Wahrscheinlich ist er überall ausgefallen.«

Brenner gab ihm im stillen recht. Trotzdem achtete er darauf, dem Gitter nicht zu nahe zu kommen, als er hinter Salid durch den Zaun trat, und führte auch Johannes behutsam am Arm durch das Hindernis. Er entspannte sich erst, als sie mehrere Schritte weit gegangen waren und die Barriere in sicherer Entfernung hinter ihnen lag.

Der Wald auf der anderen Seite unterschied sich in nichts von dem, durch den sie bisher gelaufen waren. Brenner versuchte sich zu erinnern, wie weit es noch bis zum Kloster war, konnte es aber nicht – Astrid und er waren dieses letzte Stück nicht zu Fuß gegangen, sondern von dem jungen Mönch mit dem Wagen mitgenommen worden. Er war langsam gefahren, was schon angesichts der schlechten Straße notwendig gewesen war, aber auch ein langsamer Wagen war immer noch schnell, verglichen mit einem Fußgänger. Fünf Minuten konnten auf diese Weise leicht zu einer Stunde werden, wenn nicht mehr. Und Brenner bezweifelte, daß sie noch so lange durchhalten würden. Die Kälte setzte ihm immer mehr zu. Irgendwie hatte er es bisher fertiggebracht, sie zu ignorieren, aber das war einTrick, der nicht auf Dauer funktionieren konnte. Seine Hände und Zehen waren bereits taub, und die Luft, die er einatmete, schien sich allmählich in eine Art zähflüssiges Glas zu verwandeln. Salid und Johannes erging es nicht anders. Johannes' Lippen waren blau, und sein Gesicht hatte einen wächsernen Schimmer angenommen. Brenner glaubte nicht, daß sie noch länger als zehn, allerhöchstens fünfzehn Minuten durchhalten würden.

Plötzlich hob Salid die Hand, legte den Kopf auf die Seite und zischte: »Stop! «

Johannes und Brenner blieben gehorsam stehen. Auch Brenner lauschte, aber das einzige, was er hörte, waren sein eigener Atem und das sanfte Hintergrundwispern des Waldes. »Was ist?« fragte er.

Salid lauschte noch eine, zwei Sekunden, dann entspannte er sich ein wenig und sah zu Brenner zurück. »Nichts«, sagte er achselzuckend. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört. Ich muß mich getäuscht haben.«

Aber das hatte er nicht. Im gleichen Moment, in dem Salid weiterging, hörte auch er etwas.

Hufschlag.

Es kam ihm selbst verrückt vor, aber das Geräusch war zwar leise, trotzdem jedoch sehr klar zu identifizieren. Es war Hufschlag. Das Klappern eisenbeschlagener Hufe auf Stein, das rasch näherkam.

»Sie hören es auch, nicht?« fragte Salid.

Brenner nickte. Er drehte sich herum, starrte aufmerksam in die Dunkelheit hinter sich und dann wieder nach vorne. Der Laut war deutlicher geworden, seltsamerweise aber nicht lauter; als hätte sich zwar die Anzahl der Pferde erhöht, nicht ihre Nähe vergrößert. Es klang nicht mehr nach einem Pferd, sondern mehreren. Vielen. Sehr vielen.

»Sie haben recht«, sagte er. »Da ist nichts.«

Er mußte lauter gesprochen haben, als er gewollt hatte, denn Salid blickte ihn zweifelnd an, zuckte aber dann nur erneut mit den Schultern und wollte weitergehen. Brenner hielt ihn zurück.

»Salid.«

DerTerrorist erstarrte eine halbe Sekunde lang mitten in der Bewegung zu einer fast grotesken Haltung, dann drehte er sich auf ganz genau die gleiche Weise wieder zu Brenner herum. Es sah aus, als wäre ein Film angehalten und dann ein kleines Stück weit wieder rückwärts abgespielt worden.

»Ja?«

»Eine Frage haben Sie mir noch nicht beantwortet«, sagte Brenner. Strenggenommen hatte er sie noch gar nicht gestellt, aber er holte es nach. »Wenn wir in diesem Kloster wirklich das finden, was Sie erwarten … « Warum sprach er das Wort eigentlich nicht aus? »Wie wollen Sie es vernichten?«

Salid antwortete nicht, und Brenner machte eine Kopfbewegung auf das halbautomatische Gewehr, das der Palästinenser in der Armbeuge trug. »Damit?«

Die Frage hatte spöttisch klingen sollen, aber seine Stimme hatte plötzlich einen hysterisch-schrillen Ton, welcher den gewünschten Effekt gründlich zunichte machte. Salid sah ihn sehr lange an, wirklich sehr lange. Vielleicht eine geschlagene Minute.

»Warum nicht?« fragte Salid schließlich.

»Mit einem Gewehr?« Brenner kreischte fast. »Ich verstehe Sie richtig, ja? Sie … Sie glauben, daß dort vorne das absolute Böse auf uns wartet. DerTeufel in Person. Scheijtan, wie Sie ihn nennen. Und Sie wollen ihn erschießen?«

»Wenn Sie einen besseren Vorschlag haben … « Salid lächelte auf eine sehr seltsame, schwer zu deutende Weise, sah eine Sekunde lang auf sein Gewehr hinab und deutete dann mit einer Kopfbewegung auf Johannes. »Wer weiß… vielleicht ist er unsere Waffe. Vielleicht ist auch alles ganz anders … Wollen Sie umkehren?«

Die Frage überraschte Brenner, obwohl er sich eingestehen mußte, daß er sie im Grunde provoziert hatte. Er antwortete auch nicht sofort darauf; das impulsive Kopfschütteln, zu dem er ansetzte, war eher Gewohnheit, eine Reaktion, die er, geschult durch tausend Actionfilme und – romane, auf eine

Frage wie diese selbst von sich erwartete. Nicht die Wahrheit. Nicht einmal annähernd die Wahrheit. Er wollte nicht hier sein. Ganz bestimmt nicht. Er wollte umkehren.

Aber wie konnte er das?