»Ja«, sagte er. »Aber ich fürchte, es geht nicht darum, was ich will.«
Er ging weiter, bevor Salid noch einmal widersprechen konnte und auch weil er die Kälte nicht mehr lange ertragen würde. Das Gefühl war in seine Hände und Füße zurückgekehrt; allerdings hätte er darauf gerne verzichtet. Die Luft, die er atmete, war mittlerweile zu scharfkantigen Splittern zerbrochen. Er hatte das Gefühl, von innen heraus zu Eis zu erstarren. Seine Schuhe erzeugten knirschende Geräusche auf dem Schnee, und er hörte den Hufschlag noch immer. Vielleicht war es nichts als das Geräusch seines eigenen Herzens, das in seinen Ohren dröhnte.
Es war nicht sein eigener Puls, aber es war auch kein Hufschlag. Sie traten nebeneinander um die nächste Biegung, und als die Bäume vor ihnen zurückwichen, erkannte Brenner zweierlei: Der Weg war nicht mehr annähernd so weit gewesen, wie er befürchtet hatte. Das Kloster lag als schwarzer Schattenriß vor ihnen, vielleicht noch fünfzig, vielleicht auch hundert Meter entfernt, aber nicht weiter. Er konnte sich kaum daran erinnern, wie es ausgesehen hatte, und trotzdem erschien ihm der Umriß verändert. Was er sah, war nicht das geometrische Profil eines von Menschenhand geschaffenen Bauwerkes, sondern die zerfurchte Silhouette eines Gebirges, auf das ein tollwütiger Riese mit einer Axt eingeschlagen hatte. Die Explosion mußte zu größeren Zerstörungen geführt haben, als ihm bis jetzt klar gewesen war.
Das zweite, was er begriff, nur einen Sekundenbruchteil später und mit einem Gefühl abgrundtiefen Schreckens, war die wirkliche Ursache des Geräusches, das Salid und er gehört hatten. Sie hörten es noch immer, und es gewann jetzt rasend schnell an Lautstärke. Aber es war kein Hufschlag. Es war das Geräusch eines Helikopters, der wie ein mythisches Ungeheuer aus einer längst vergessen geglaubten Zeit hinter den zerfurchten Schatten der Ruine auftauchte und Kurs auf Salid, Johannes und ihn nahm.
Nachdem das Motorengeräusch verstummt war, hatte sich eine fast unheimliche Stille im Inneren des Hubschraubers ausgebreitet. Kenneally war wie gelähmt. Was er gehört hatte, war absurd; einfach lächerlich – trotz allem, was er erlebt hatte, so grotesk, daß er am liebsten vor Lachen laut losgebrüllt hätte. Aber ihm war nicht nach Lachen zumute. Alles, was er fühlte, war eine tiefe, saugende Leere, die plötzlich in seinem Inneren klaffte und in der alle seine Gefühle und Empfindungen wie in einem sich immer schneller drehenden schwarzen Strudel verschwanden.
»Werden Sie es tun?« fragte Adrianus endlich. Seit sie gelandet waren und der Pilot die Motoren abgeschaltet hatte, waren sicherlich fünf Minuten vergangen; vielleicht mehr. Kenneallys Zeitgefühl war ebenso stehengeblieben wie seine und Adrianus' Armbanduhr. Vielleicht war es auch eine Stunde, vielleicht nur Sekunden. Möglicherweise gab es auch so etwas wie Zeit schon nicht mehr. Es hätte längst hell werden müssen, aber auf der anderen Seite der bullaugenartigen Fenster herrschte noch immer tiefste Dunkelheit. Jemand hatte eine schwarze Decke über den Himmel gezogen und das Licht ausgesperrt.
Kenneally schwieg. Seine Finger strichen über das Metall der Waffe, die quer über seinen Knien lag, aber er fühlte die kühle Glätte kaum. Er war nicht ganz sicher, daß er überhaupt verstand, was Adrianus meinte.
»Das … das ist monströs«, flüsterte er. Das Gespräch war so absurd wie dasThema, um das es ging: zwischen Frage und Antwort lagen mehr als fünf Minuten, und sie kamen nicht immer in der richtigen Reihenfolge. »Was Sie da erzählen, ist … « Er brach ab. Eine Minute später sagte Adrianus:
»Vielleicht haben Sie recht, Kenneally. Aber es ist nun einmal geschehen. Und es war richtig. Wir wären alle nicht hier, wenn sie ihn damals nicht eingekerkert hätten.«
»Und was haben Sie davon?« fragte Kenneally lahm. Er mußte seine Zunge zwingen, sich zu bewegen. Die geistige Paralyse, die Adrianus' Eröffnung in ihm ausgelöst hatte, schien eine körperliche Lähmung nach sich zu ziehen, die erst mit einiger Verspätung einsetzte. »Er wird uns alle vernichten. Womit soll ich ihn aufhalten? Damit?
Er hielt das Gewehr mit beiden Händen in die Höhe und schüttelte es so wild, daß Adrianus ganz instinktiv ein kleines Stück auf dem Sitz nach hinten wich. Die Heftigkeit seiner Reaktion überraschte ihn selbst. Und er verstand sie nicht. Er glaubte nichts von dem, was Adrianus erzählte. Gott und Teufel, Jesus und Beelzebub, dieser ganze religiöse Humbug … das war … Aberglaube. Ein Überbleibsel aus einer Welt, die so überholt war wie Adrianus selbst.
Und trotzdem zweifelte er keinen Moment daran, daß es die Wahrheit war.
»Ich habe Ihnen nicht versprochen, daß es gelingt«, erinnerte Adrianus. »Ich habe Ihnen nicht einmal versprochen, daß Sie es überleben. Aber wir müssen es versuchen. Es ist uns schon einmal gelungen, ihn aufzuhalten.«
»Und was haben Sie davon gehabt?« fragte Kenneally. »Zeit«, antwortete Adrianus ernst. »Zweitausend Jahre, Mr. Kenneally. Für uns. Für uns alle. Und vielleicht gelingt es noch einmal, eine Gnadenfrist herauszuschinden. Wir müssen es versuchen. «
Kenneally schüttelte den Kopf. »Es ist reizend, daß Sie immer wir sagen«, murmelte er.
»Ich würde es selbst tun«, antwortete Adrianus. »Ich kann nicht schießen.«
Das war ein so simpler Grund, daß Kenneally ihn vorbehaltlos akzeptierte. Außerdem wollte er nicht mehr widersprechen. Er wollte überhaupt nicht mehr reden. Worte erschienen ihm plötzlich so sinnlos. Er legte das Gewehr wieder quer über seine Knie und begann erneut, mit den Fingerspitzen über das Metall zu streichen.
Zeit verging. Die Uhren waren stehengeblieben, aber die Sekunden strichen trotzdem fast hörbar an der Maschine vorbei. Die Frist, von der Adrianus gesprochen hatte, mußte längst vorüber sein. Möglicherweise waren sie ja schon zu spät. Vielleicht hatten Salid und die beiden anderen ihr Ziel ja schon erreicht gehabt, lange bevor sie hier ankamen, und die Dinge, die sie aufhalten wollten, hatten längst begonnen.
Ein leises Piepsen erklang. Adrianus griff in die Jackentasche, zog ein kleines Sprechgerät hervor und meldete sich. Er lauschte kaum länger als eine Sekunde, dann sagte er: »In Ordnung. Starten Sie.«
»Sind sie da?« fragte Kenneally.
»Sie kommen.« Adrianus nickte zur Bestätigung und deutete in der gleichen Bewegung auf das Gewehr über Kenneallys Knien. »Machen Sie sich bereit. Sie werden nicht viel Zeit haben.«
Er hatte alle Zeit der Welt. Kenneally war ein guter Schütze. Er traute sich durchaus zu, auch aus einem fliegenden Helikopter heraus einen Mann zu treffen, vor allem mit einer halbautomatischen Waffe wie dieser. Aber er hatte nicht vergessen, was das Smith-Ding zu ihm gesagt hatte: Der Mann, der dich richten wird. Er würde Salid nicht töten. Salid würde ihn töten. Er wußte es. Der Insektenmann hatte es gesagt.
Trotzdem stand er auf, ging zurTür und schob sie auf. Über ihren Köpfen begannen sich die Rotorblätter zu drehen, und die ganze Maschine begann sacht zu zittern, das war alles. Selbst als der Helikopter abhob, hatte er kaum das Gefühl, sich in einem Flugzeug zu befinden. Der Boden schien vielmehr nahezu lautlos unter ihnen in dieTiefe zu gleiten, gefolgt von den Schatten der niedergebrannten Klostermauern, zwischen denen sie gewartet hatten. Kenneally ließ sich langsam auf das rechte Knie herabsinken, stützte den Ellbogen auf den Oberschenkel und setzte das Gewehr an die Schulter.
»Ich bete für Sie«, sagte Adrianus. Das war vielleicht der Gipfel der Absurdität – und so ganz nebenbei etwas, das Kenneally vollkommen gleichgültig sein konnte – , und trotzdem wirkten die Worte sonderbar beruhigend. Alles war
durcheinander, auf den Kopf gestellt und ins Gegenteil verkehrt. Kenneally, ausgerechnet er, der überzeugte Atheist, war plötzlich zu einem Krieger in der letzten der biblischen Schlachten geworden. Später, so nahm er sich vor – wenn es ein Später für ihn geben sollte, würde er herzhaft über diesen obskuren Scherz des Schicksals lachen.
Er schaltete die mit einem Nachtsichtgerät gekoppelte Laser-Zieleinrichtung des Gewehrs ein und preßte das linke Auge gegen die Optik, während der Helikopter, der seinen Steigflug mittlerweile beendet hatte, eine Neunzig-Grad-Drehung in der Luft vollführte und der Waldrand unter ihnen in Sicht kam. In dem grüngefärbten Panorama, das sich seinem Blick bot, sah der verschneite Wald aus wie eine Aufnahme aus einem Science-Fiction-Film, unwirklich und mit zu harten, falschen Konturen. Trotzdem konnte er die drei Gestalten, die hintereinander auf dem verschneiten Waldweg herankamen, so deutlich erkennen, als stünden sie auf Armeslänge vor ihm.