Der Schuß klang sonderbar gedämpft. Johannes schrie auf, diesmal vor Schmerz statt Entsetzen, ließ Salid aber trotzdem nicht los, sondern klammerte sich nur noch fester an ihn.
Salid feuerte ein zweites Mal. Der Schuß schleuderte Johannes zurück, aber er ließ Salids Schultern immer noch nicht los, sondern zerrte ihn mit sich. Aneinandergeklammert prallten sie gegen den verbrannten Mann und stürzten, scheinbar zu einem einzigen, unentwirrbaren Knäuel aus Gliedern und Körpern geworden, die Treppe hinunter.
Brenner hetzte hinterher, so schnell er konnte. Er hatte keine Chance, einem der drei irgendwie zu helfen: Die Treppe führte so steil in die Tiefe, daß es schon unter normalen Umständen gefährlich gewesen wäre, sie hinabzugehen. Einen stür zenden Mann – und erst recht drei! – aufzuhalten, war praktisch unmöglich, ohne selbst mitgerissen zu werden. Er hielt nicht einmal mit ihnen Schritt. Salid, Johannes und der Mann schlugen mit einem fürchterlichen Laut am Fuße der Treppe auf, noch bevor Brenner die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatte. Trotzdem rannte er weiter, so schnell er nur konnte, und sprang die letzten Stufen mit einem einzigen Satz hinab, zu dem er normalerweise niemals den Mut aufgebracht hätte. Er fiel auf die Knie, wimmerte, als ein neuer, grausamer Schmerz durch seine beiden Kniescheiben schoß, und kroch hastig und auf allen vieren weiter.
Er kam zu spät. Salid lag mit weit offenstehenden, gebrochenen Augen in einer neuen und schon wieder mit erschreckender Schnelligkeit anwachsenden Blutlache. Der verbrannte Mann war ein Stück zur Seite gerollt und reglos liegengeblieben, und auch er konnte nicht mehr leben. Die Treppe hatte fünfunddreißig Stufen. Fünfunddreißig Chancen, sich das Genick zu brechen oder auf andere Weise zu Schaden zu kommen. Er selbst hatte den Weg dieseTreppe hinunter überlebt, aber da hatte ihn die gleiche, unheimliche Macht beschützt, die zu bekämpfen sie nun gekommen waren. Brenner schenkte der verkohlten Gestalt nur einen flüchtigen Blick, kroch dann zu Johannes hin und drehte ihn auf den Rücken.
Johannes war tot. In seiner Brust und seinem Bauch klafften zwei furchtbare Wunden, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht stand in krassem Gegensatz zu dem Anblick. Zum erstenmal, seit Brenner den jungen Jesuiten kennengelernt hatte, glaubte er einen Ausdruck von Frieden auf seinen Zügen zu entdecken, eine Erleichterung, die trotz der Grimasse entsetzlicher Qual deutlich zu erkennen war. Das unheimliche Feuer in seinen Augen war erloschen, aber sie waren auch nicht so leer, wie es die einesToten sein sollten. Brenner las etwas darin, was in seiner beruhigenden Wirkung angesichts der Situation, in der er sich befand, geradezu absurd erschien: eine Botschaft, die nur für ihn allein bestimmt war, und an deren Wahrhaftigkeit es keinen Zweifel gab. Johannes hatte seinen Frieden gefunden. Wo immer sein Geist jetzt war,es war nicht mehr das Fegefeuer, durch das er gegangen war. Trotzdem
»Warum?« flüsterte Brenner. Er sprach das Wort nicht einmal wirklich aus, sondern formulierte es nur in Gedanken, ein verbitterter, stummer Schrei, der voller Verzweiflung nach einer Erklärung für all dieses sinnlose Sterben verlangte.
Und er bekam eine Antwort.
»Weil es notwendig war. Für sie und für die ganze Menschheit.«
Die Stimme kam vom oberen Ende der Treppe, und er wußte, was er sehen würde, noch bevor er den Kopf hob und hinaufsah. Es war wie eine getreuliche Wiederholung der Szene vor dreiTagen, dem allerletzten Bild, das er gesehen hatte, ehe eine der fünfunddreißig Treppenstufen sein Bewußtsein auslöschte. Das Mädchen stand da, sogar noch in der gleichen Haltung, als wäre in diesem kleinen Teil der Welt einfach die Zeit stehengeblieben, um jetzt, vierTage und eine Schöpfungsperiode später, weiterzulaufen.
Brenner sagte nichts. Er saß einfach weiter reglos da, Johannes' Kopf und Schultern in den Schoß gebettet und die rechte Hand über den gebrochenen Augen, wie um ihn vor diesem letzten, schrecklichen Anblick zu beschützen: dem Engel, der zum Teufel geworden war und nun kam, um als letzten ihn zu holen und es zu Ende zu bringen. Er fürchtete das Sterben nicht mehr. Er wollte nur noch, daß es vorbei wäre.
Astrid blieb zwei Schritte vor ihm stehen und sah lange und mit einer nur angedeuteten, aber sichtbaren Spur von Trauer auf Salids Leichnam herab, ehe sie sich an ihn wandte. In ihrem Blick war etwas, das Brenner schaudern ließ und es ihm unmöglich machte, ihm länger als einige Sekundenbruchteile standzuhalten.
»Warum?« fragte er noch einmal. »Warum dieses grausame Spiel? Hat es euch Spaß gemacht, uns zu quälen?« Plötzlich schrie er: »Warum habt ihr uns nicht sofort vernichtet?«
»Weil die Dinge so geschehen mußten, wie sie vorherbestimmt sind«, antwortete Astrid. Sie deutete auf Salid, dann auf Johannes. »Es war seine Aufgabe, dich hierherzubringen, und die seine, dich zu beschützen.«
Wenn es so ist, dann hat er versagt, dachte Brenner. Dann wurde ihm klar, daß Astrid gar nicht Salid gemeint hatte. Ihre Hand wies in die andere Richtung, auf den verbrannten Mann.
»Ich habe auf dich gewartet«, sagte Astrid. »Du hast lange gebraucht, aber es mußte wohl sein.« Sie deutete mit einer Handbewegung hinter sich, tiefer in die Schatten hinein, in denen sich der gewölbte Gang verlor. Brenner glaubte eine Bewegung jenseits der Schwärze wahrzunehmen, aber sie war nicht deutlich genug, um ihr irgendein Erkennen zuzuordnen.
»Komm«, sagte Astrid. »ER erwartet dich.«
Brenner ließ Johannes' reglosen Körper sehr vorsichtig zu Boden gleiten, Schloß mit einer ebenso behutsamen Bewegung seine Augen und trat auf das Mädchen zu. Astrid drehte sich um und ging vor ihm her.
Der Weg war nicht weit. Das rote Licht, das sie schon von oben aus gesehen hatten, stammte von einer Anzahl heftig rußender Fackeln, die an den Wänden des Tunnelgewölbes angebracht waren und sie zu einer massiven, höchstens anderthalb Meter hohen Tür geleiteten, die mit einem zentnerschweren Eichenriegel gesichert war. Es gab kein modernes Schloß, nicht einmal einen einfachen Splint, um den Riegel zu sichern, aber gerade die Einfachheit der Konstruktion war es, die sie besonders massiv erscheinen ließ; kein High Tech-Schloß, das man mit einer Büroklammer und etwas Geschick öffnen konnte, sondern ein einfaches, simples Ding, das für die Ewigkeit geschaffen schien. Etwa in Brusthöhe war eine Klappe in dieTür eingelassen, zwanzig mal zwanzig Zentimeter und mit einem doppelten Kreuz aus rostigen Eisenstäben gesichert. Es war eine Kerkertür.
Astrid öffnete sie, trat gebückt hindurch und winkte Brenner zu, ihr zu folgen. Er gehorchte, mit klopfendem Herzen, aber trotzdem sehr schnell, und er richtete sich auf der anderen Seite derTür so hastig auf, daß er schmerzhaft mit dem Rücken an dem niedrigen Sturz entlangschrammte und das Gesicht verzog, ehe er einen weiteren Schritt machte, um sich nicht noch mehr zu verletzen. Möglicherweise war ihm ja eine tragende Rolle in der letzten Schlacht zwischen Gut und Böse zugedacht worden, aber das hieß leider nicht, daß er immun gegen körperlichen Schmerz gewesen wäre.
Aufmerksam sah er sich um. Nicht, daß es viel zu sehen gegeben hätte. Der Raum bestätigte den Eindruck, den die Tür erweckt hatte, und er war das, was man hinter einer Kerkertür erwartete: ein Kerker. Er hatte einen quadratischen Grundriß und maß allerhöchstens fünf Schritte in jede Richtung, und die Decke war so niedrig, daß Brenner gerade noch aufrecht darin stehen konnte, obwohl er alles andere als ein Riese war. Wie der Gang, der hierherführte, war auch die Zelle selbst nicht gemauert, sondern offensichtlich aus dem natürlichen Felsuntergrund herausgemeißelt worden – praktischerweise gleich mit Mobiliar. Es gab eine zwei Meter lange und halb so breite Lagerstatt und einen etwas kleineren, dafür höheren Altarstein, der offensichtlich als Tisch gedient hatte. Die Wände waren schwarz und von einer mindestens zwei Zentimeter dicken Rußschicht bedeckt, und in der Luft hing ein schwacher, aber penetranter Geruch nach Rauch, nach heißem Kerzenwachs und Essen und nach dem Schweiß von zweitausend Jahren Gefangenschaft.