Er sprach nichts von alledem aus, aber er wußte, daß Simon die Wahrheit in seinem Blick las. Simon war auf seine Weise etwas sehr Besonderes, auch wenn er es selbst nicht einmal ahnte: Es war ihm niemals gelungen, irgend etwas vor ihm zu verheimlichen.
»Dann läßt du uns keine Wahl«, sagte Simon traurig. »Ich bete darum, daß wir mit dieser Schuld leben können. Aber wir müssen es versuchen. Um unserer Kinder willen, und der tausendmal tausend anderen dort draußen. «
»Und was wollt ihr tun?« fragte er. »Mich töten?« Er lächelte. »Selbst wenn ihr es könntet, es würde nichts ändern. An meiner Stelle würde ein anderer kommen. Ich bin kaum mehr als ihr, gegen den, der mich geschickt hat. Nur ein Werkzeug. «
»Sind wir das nicht alle?« murmelte Simon. Dann gab er sich einen sichtbaren Ruck, straffte die Schulter und fuhr mit lauterer, wieder fester Stimme fort: »Wir werden dein Werk fortsetzen, Herr. Wir werden in die Welt hinausgehen und deine Lehren verbreiten, und wir werden versuchen, die Menschen auf den Weg zu führen, den du uns gezeigt hast. Jeder einzelne von uns wird sein Leben dafür einsetzen, das verspreche ich dir. DeinTod wird der Grundpfeiler unserer Macht werden. Wir werden zu Ende bringen, was du begonnen hast. Aber wir können dich nicht gehen lassen, denn diese Welt braucht Zeit. Mehr, als du ihr geben kannst. «
»Mehr, als ich ihr geben darf«, sagte er traurig. »Glaubt ihr wirklich, ihr könntet mich binden? Mit Gewalt?«
»Ja«, antwortete Simon mit fester Stimme. »Du hast uns viel gelehrt, Herr, und wir waren gute Schüler. Unsere Kraft wird reichen.«
Die Kraft, die er sie gelehrt hatte. Glaubten diese Narren denn wirklich, ihn mit seiner eigenen Macht schlagen zu können? Für einen Moment flammte heißer Zorn in ihm auf; ein Gefühl, das ihm vollkommen fremd gewesen war, bevor er auf diese Welt kam und diese schwachen und auf sonderbare Weise zugleich so starken Wesen kennenlernte, über die er richten sollte, und für einen noch kürzeren Moment war er versucht, einfach aufzustehen und seine Fesseln zu sprengen und ihnen zu zeigen, welche Gewalten sie wirklich herausgefordert hatten.
Er tat es nicht. Der Zorn verging, aber auch die Trauer, die er bisher empfunden hatte, kehrte nicht sofort zurück. Plötzlich verstand er Simon und die anderen, und mit diesem Verstehen ging noch etwas anderes einher: ein weiteres, ihm bisher völlig unbekanntes Gefühl, das ihn in seiner Gewaltigkeit schier erstarren ließ. Bewunderung. Ein Erschauern vor dem Mut, den Simon und die anderen aufbrachten, ihm, einem GOTT, zu widersprechen. Vielleicht war er das, wofür sie ihn hielten, vielleicht auch nicht, aber seine Macht kam der eines Gottes gleich; die Macht, Welten zu erschaffen, aber auch zu zerstören, mit nichts mehr als der Bewegung einer Hand und der Kraft eines Gedankens.
Und trotzdem wagten es diese winzigen, verwundbaren Wesen, ihm zu trotzen. Mehr noch – sie wagten es, das Schicksal selbst und sogar den, der hinter ihm stand, herauszufordern, einfach nur, weil sie glaubten, daß ihr Volk diese Chance verdiente. Sie erbaten sie nicht von ihm. Sie forderten sie. Und verdiente ein Volk, das solche Tapferkeit hervorbrachte, nicht tatsächlich diese eine, vielleicht allerletzte Chance?
Die Gewalten, die zu entfesseln er im Begriff gewesen war, zogen sich wieder zurück.
Für eine Weile.
Sie sollten ihre Gnadenfrist bekommen.
Der Himmel über dem Wald war noch immer schwarz, als Brenner das Kloster verließ, und das war vielleicht der erste, bewußte Gedanke, den er wieder dachte, seit er aus dem Kerker hinaufgestiegen war: Der JüngsteTag war keinTag, sondern eine Nacht. Ein Morgen ohne Dämmerung, dem – wenn überhaupt jemals – ein Sonnenaufgang über einer Welt folgen würde, die nichts, aber auch gar nichts mehr mit der gemein hatte, die er kannte.
Die Welt würde nicht untergehen, aber sie würde anders sein. Radikal anders, als er sich selbst jetzt auch nur vorstellen konnte.
Er war der letzte, der die Ruine verließ. Die drei anderen warteten bereits am Waldrand auf ihn, und obwohl Zeit keine Rolle mehr spielte, vielleicht nicht einmal mehr wirklich existierte, spürte er doch, daß sie lange auf ihn gewartet hatten. Wie die Visionen, die er zuvor erlebt hatte, war auch diese letzte im Bruchteil einer Sekunde abgelaufen; er erlebte die Ereignisse nicht wirklich noch einmal, sondern erinnerte sich an sie, schlagartig und in ihrer Gänze, nicht nacheinander. Trotzdem war er allein gewesen, als sein Bewußtsein den Weg in die Gegenwart zurückgefunden hatte, und er war es lange Zeit geblieben. Zeit, in der er einfach dagestanden und nichts anderes getan hatte, als zu erschauern. Die Gewaltigkeit dessen, was er erfahren hatte, ließ keinen Platz mehr für irgendein anderes Gefühl. Sie ließ auch keinen Platz mehr für Zweifel; nicht einmal mehr für die Frage nach dem Warum. Es gab kein Warum. Keinen wirklichen Grund, aus dem er auserwählt worden war. Er war es, weil er es war, und das war der einzige Grund, und er reichte.
Es war noch kälter geworden. Ein eisiger, heulender Wind begrüßte ihn, als er aus dem Schutz des Torbogens heraustrat, und Brenner schauderte unter der dünnen Jacke, die er trug. Wozu auch immer er werden würde, etwas von ihm blieb ein lebender, fühlender Mensch, der imstande war, Kälte und Schmerz zu empfinden, Furcht und Leid. Und am Ende, ganz zum Schluß, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt hatten, vielleicht den Tod – oder was auch immer auf die Illusion folgen mochte, die er bisher für Leben gehalten hatte.
Der Schnee knirschte unter seinen Schuhen, und in das Heulen des Windes mischten sich andere, fremdartige Laute: Das Schnauben der Pferde, ein unruhiges Scharren und Hufklappern, das Geräusch von nassem, schwerem Leder, das Klirren von Stahl.
Das erste Pferd war weiß, und der, der auf ihm saß, hatte all seinen Zweifel abgelegt. Johannes hatte den Kampf mit sich selbst gewonnen und war Sieger geblieben.
Das zweite Pferd war rot, ein feuriger Fuchs, und auf seinem Rücken saß der verbrannte Mann, ihr Verfolger, doch er war heil und ohne Makel; denn er war durch das Feuer hindurchgegangen und geläutert worden.
Auf dem dritten Pferd, einem Rappen schwarz wie die Nacht, saß der, den man einst den Vater desTodes genannt hatte. Doch Salid würde nie mehr töten. Er hatte erkannt, welchen Wert der Tod und das Leben besaßen, und so seinen eigenen Tod überwunden.
Das vierte Pferd, ein Falbe, scharrte im Unlicht mit den Hufen.
Zwei Schritte, bevor Brenner die anderen erreichte, blieb er stehen und sah sich noch einmal um. Sein Blick glitt über die Klosterruine, den Waldrand und den sternenlosen, schwarzen Himmel und schließlich über die Pferde, über ihr struppiges Fell und die Nüstern, aus denen grauer Dunst wie der feurige Atem mystischer Drachen dampfte. Die Tiere waren unruhig.
Es wurde Zeit. Brenner griff nach dem Sattelknauf des letzten, vierten Tieres und schwang sich mit einer kraftvollen Bewegung auf seinen Rücken, und im gleichen Moment, in dem er es tat, überkam ihn ein unendlich tiefer Frieden, und das unerschütterliche Wissen um das, was zu tun war und wie es zu geschehen hatte.
Die Frist war abgelaufen. Die Bewohner dieser Welt hatten ihre Chance gehabt, und nun war es an ihm und den drei anderen, zu entscheiden, ob sie sie genutzt hatten oder nicht.
Ein greller Blitz spaltete den Himmel und schlug irgendwo weit entfernt im Wald ein, und in den Schnee begann sich eiskalter Regen zu mischen. Das Heulen des Windes klang plötzlich wie ein Seufzen, als ducke sich die Schöpfung selbst unter der Vorahnung dessen, was kommen mochte.
Die vier apokalyptischen Reiter wendeten ihre Pferde und ritten in die Welt hinaus.