Dessler sah ihn mit eindeutigem Entsetzen in den Augen an, aber genau das hatte Kenneally ja erreichen wollen. Außerdem war er nicht einmal mehr sicher, ob er damit wirklich so sehr übertrieben hatte.
»Ich muß telefonieren«, fuhr er fort. »Wo kann ich hier – ?« Er wollte in die Tasche greifen, um sein Handy herauszuholen, aber er führte die Bewegung nicht zu Ende, als zwei, drei Polizeibeamte nervös ihre Waffen hoben und wieder auf ihn anlegten. Dessler machte eine beruhigende Geste in die Runde, aber er hatte sich auch bereits wieder gefangen.
»Überhaupt nicht«, sagte er entschlossen. Kenneally fuhr auf. »Was soll das hei-?«
»Das soll heißen«, fiel ihm Dessler ins Wort, »daß Sie sich als verhaftet betrachten dürfen, Herr Kenneally. Sie werden mit niemandem mehr telefonieren oder sonst irgend etwas tun. Ab sofort kümmern wir uns um die Sache. Das hätten wir von Anfang an tun sollen. «
»Sie wissen ja nicht, worauf Sie sich da einlassen«, sagte Kenneally. »Dieser Kerl ist – «
»Genug! « Diesmal war etwas in Desslers Stimme, was selbst Kenneally klarmachte, daß es vielleicht besser war, jetzt nicht mehr zu widersprechen. Dieser Mann sah vielleicht aus wie ein unbedarfter deutscher Kleinstadt-Bürgermeister, aber er hatte Courage. »Ich werde jedenfalls nicht weiter tatenlos zusehen, wie Sie hier Krieg spielen. Wo ist Ihr verdammter Hubschrauber?«
Kenneally zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, sagte er. Es war die Wahrheit. Seit sie geflüchtet waren, hatte er jeden Kontakt zu der Maschine verloren. Er drehte sich nervös auf der Stelle herum, starrte drei, vier Sekunden lang konzentriert in die Dunkelheit hinter sich und wandte sich dann wieder an Dessler.
»Hören Sie, Herr Bürgermeister«, sagte er betont. »Meinetwegen verhaften Sie mich und meine Leute – mir ist es recht. Auf diese Weise bin ich wenigstens sicher, daß ich morgen früh noch am Leben bin. Aber tun Sie sich und Ihren Männern einen Gefallen: Geben Sie Schießbefehl! «
»Auf Salid?«
Kenneally schüttelte heftig den Kopf. »Nicht nur auf Salid. Auf alles, was sich bewegt. Ich weiß nicht, was dort hinten passiert ist, aber eines weiß ich ziemlich sicher: Was immer aus dieser Richtung kommt, gehört bestimmt nicht zu uns. Es ist vielleicht nicht einmal menschlich.«
Dessler lachte, aber es klang nicht sehr echt. »Sie sind ja verrückt«, sagte er. »Es scheint zu stimmen, was man über euch Amis sagt: Ihr seht zu viele schlechte Filme.«
»Ich wollte, es wäre so«, antwortete Kenneally. Er lächelte bitter, trat Dessler wieder einen Schritt entgegen und streckte ihm die aneinandergelegten Handgelenke entgegen. »Bitte! Verhaften Sie mich! «
Dessler starrte seine Hände an, als wüßte er nicht genau, was er damit anfangen sollte, und im Grunde hatte Kenneally damit gerechnet, daß er irgendeine Bewegung oder Geste machen und die Sache damit auf sich beruhen lassen würde, aber schließlich trat Dessler ein Stück zur Seite und winkte einen der Polizisten herbei. »Nehmen Sie ihn fest. Und die anderen auch.«
Der Beamte trat auf ihn zu und zog ein Paar Handschellen unter der Jacke hervor. Kenneallys Gedanken überschlugen sich. Für einen ganz kurzen Moment spielte er ernsthaft mit dem Gedanken, einen gewaltsamen Ausbruch zu versuchen aber wirklich nur für einen ganz kurzen Moment. Seine Einschätzung, was diese Leute hier anging, mochte durchaus richtig sein: Es waren Kleinstadtpolizisten, deren Leben sich normalerweise in so aufregenden Dingen wie der Jagd nach Scheckbetrügern oder dem Verteilen vonTickets an Falschparker erschöpfte, aber gerade das machte sie gefährlich. Er würde seinen Auftrag nicht erfüllen können, wenn er von einem übereifrigen Polizisten in den Kopf geschossen wurde.
Die Handschellen schlossen sich mit einem schnappenden Geräusch um seine Handgelenke, das allein Kenneally genug über ihren Mechanismus verriet, um sie auch ohne Schlüssel öffnen zu können. Während ihn der Beamte mit einer vollkommen übertrieben heftigen Bewegung am Oberarm ergriff und vor sich hertrieb, sah sich Kenneally das erste Mal wirklich aufmerksam um.
Was er feststellte, beruhigte ihn. Alles in allem hatte er es mit weniger als einem Dutzend Beamten zu tun, und einer vielleicht dreimal so großen – und beständig anwachsenden – Anzahl von Zivilisten, die ihr Möglichstes taten, um die Straßensperre zu durchbrechen oder wenigstens einen Blick auf die andere Seite der Barriere zu werfen, die von den drei quergestellten Streifenwagen gebildet wurde. Nicht weit entfernt zuckten die Blaulichter eines Feuerwehrwagens und einer Ambulanz um die Wette. Wenn der Tanz losging, würde er keine zehn Sekunden brauchen, um zu flüchten.
»Bevor Sie auf irgendeine dumme Idee kommen«, sagte Dessler hinter ihm. »Meine Männer haben Schießbefehl. Auch auf Sie.«
Kenneally sah sich im Gehen um. Dessler war ihm gefolgt und sah nun endlich so nervös und hilflos aus, wie Kenneally es sich am Anfang ihres Gespräches gewünscht hätte. Seine letzte Behauptung war eine glatte Lüge, und nicht einmal eine sehr glaubhafte.
Kenneally blieb stehen und sah den graugesichtigen Mann durchdringend an, und zum erstenmal fiel ihm auf, wie unscheinbar er im Grunde war. Er revidierte seine Meinung über ihn abermals, und diesmal kam er der Wahrheit wahrscheinlich ziemlich nahe. Dessler gehörte offensichtlich durchaus zu jenen Männern, die in Streßsituationen über sich hinauszuwachsen vermögen. Aber er griff dabei nach jedem Strohhalm, der sich ihm bot. In diesem Falle hieß dieser Strohhalm Kenneally.
»Sie wissen nicht, worauf Sie sich einlassen«, sagte er noch einmal, und diesmal wischte Dessler den Einwand nicht mit einer Handbewegung zur Seite, sondern antwortete im gleichen Ton:
»Dann sagen Sie es mir, verdammt noch mal! «
»Ich wollte, ich wüßte es«, antwortete Kenneally. Er erinnerte sich an die Schwärze, nicht mehr. Etwas war aus dem Haus gekommen. Er wußte immer noch nicht, was, aber er wußte, daß es hierherkam. »Ich kann Ihnen nur eines sagen: Was immer Sie sehen, schießen Sie darauf.« Falls es etwas nutzt.
»Sie meinen das ernst, nicht?« fragte Dessler. »Ich meine, Sie … Sie glauben wirklich, wir sind hier in einer Ihrer BronxSchießereien oder irgendeinem dieser beschissenen Hollywood-Filme, wie? Sie müssen völlig verrückt sein! Sie … Sie können nicht einfach hierherkommen und Krieg spielen! Sie – «
Jemand schrie. Einen Moment später fiel ein einzelner Pistolenschuß, und obwohl die beiden Laute jeder für sich sonderbar dünn und fast verloren klangen, wirkte der eine wie ein Katalysator für den anderen. Für den Bruchteil einer Sekunde kehrte eine fast gespenstische Stille ein, in der selbst das asynchrone Heulen der Sirenen innezuhalten schien.
Dann brach ringsum und überall zugleich Panik aus. Kenneally sah nicht hin. Er brauchte zwei Sekunden, um den Polizeibeamten zu überwältigen, der ihn eskortierte, und weitere fünf, um sich der Handschellen zu entledigen.
Es war ein Anblick wie aus einem jener Post-Doomsday-Filme, die er früher so gerne gesehen hatte, nur weniger dramatisch, nicht in Technicolor, sondern in Schwarz-Weiß und ohne akustische Untermalung.
Vielleicht wirkte sie deshalb so entsetzlich real.
Die Straße vor dem Haus war verschwunden. Was Brenner im allerersten Moment für Dunkelheit gehalten hatte, war eine tintige Schwärze, die lautlos aus den Wolken herausgesickert war und sich als farbenvernichtendes Leichentuch über der Schöpfung ausgebreitet hatte. Und etwas von dieser Dunkelheit begann auch in seine Seele zu kriechen und sie zu zerstören; langsam, schleichend und fast ohne Schmerz.
»Was … was ist das?« flüsterte er noch einmal.
Diesmal bekam er eine Antwort, auch wenn die Worte ebensowenig an Johannes gerichtet waren, wie seine Frage ihm gegolten hatte.