»Die Ödnis«, flüsterte der junge Geistliche. »Das öde Land. Vater im Himmel, es … es hat begonnen.« Brenner sah aus den Augenwinkeln, wie Johannes sich bekreuzigte und eine Bewegung begann, wie um auf die Knie zu sinken, sie aber nicht zu Ende führte; wie eine Marionette, deren Spieler auf einmal beschlossen hatte, ein anderes Stück zu spielen. Warum fiel ihm ausgerechnet dieser Vergleich ein?
»Was hat begonnen?« fragte Salid. Es war Brenner immer noch nicht möglich, seinen Blick von der furchterregenden Schwärze jenseits der Schwelle zu lösen, aber er registrierte trotzdem, wie Salid sich herumdrehte und Johannes scharf ansah. »Was?«
»Die Apokalypse« antwortete Johannes. »Das Ende der Welt. Verstehen Sie denn nicht? Haben Sie denn keine Augen im Kopf? Sehen Sie doch hin! «
»Ich sehe nichts«, antwortete Salid. »Ausgenommen der Tatsache, daß wir vielleicht doch noch eine Chance haben.« Er wandte sich an Brenner. »Was ist mit Ihnen? Sind Sie okay?«
Ein Gefühl eindeutig hysterischer Belustigung stieg in Brenner hoch. Okay? »Das ist die lächerlichste Frage, die ich heute gehört habe«, antwortete er.
Salid nickte. »Sie sind okay«, behauptete er. »Los, jetzt weg hier. Lauft zu dem Wagen dort drüben. Ich komme sofort nach!«
Lächerlich oder nicht, Salids unheimliche Macht über Brenners Willen funktionierte noch immer. Diesmal beobachtete er sich selbst genau: Seine Gliedmaßen setzten sich nicht nur ohne, sondern eindeutig gegen seinen eigenen Entschluß in Bewegung. Ohne daß Salid ihn eigens dazu auffordern mußte, ergriff er Johannes' Hand und zog ihn mit sich die kurze Treppe hinab und auf den Wagen auf der gegenüber liegenden Straßenseite zu, auf den Salid gedeutet hatte. Es war nur einer von mehreren Wagen. Etwas stimmte nicht damit, aber er vermochte nicht zu sagen, was. Vielleicht war er es ja, mit dem etwas nicht stimmte. Sie. Johannes, Salid und er waren die einzigen lebenden Wesen in dieser Fantasy-Kulisse, und sie hatten hier ebensowenig verloren wie Häuser, die Menschen verschlangen, und Männer, deren Gesichter sich in Nichts auflösten, in der Wirklichkeit. Er hatte mehr und mehr das Gefühl, durch eine Drehtür in eine fremde, bizarre Nicht-Wirklichkeit getreten zu sein.
Und es wurde schlimmer, mit jedem Schritt, den sie sich vom Haus entfernten. Jemand hatte einen Eimer geschmolzenes Pech genommen und über der Welt ausgegossen. Die einzige Farbe, die er sah, war schwarz. Der Himmel war leergefegt; es gab keine Wolken, keine Sterne, nichts mehr, nur eine einheitliche schwarze Fläche, die mit rauchigen Fäden aus Dunkelheit mit der Erdoberfläche verbunden schien.
Sein Fuß stieß gegen ein Metallteil, das scheppernd davonrollte. Brenner sah ihm nach. Er hatte das Gefühl, es eigentlich erkennen zu müssen, aber es dauerte eine Sekunde, ehe aus diesem Gefühl auch tatsächlich Wis sen wurde: es war eine Gürtelschnalle. Die Metallteile einer Gürtelschnalle. Der dazugehörige Lederriemen fehlte. So, wie der hölzerne Schaft des Gewehres, dessen Lauf, Abzug und Schußmechanismus er daneben entdeckte. Wie das Lederarmband der Uhr, die vor ihm lag. Der Kinnriemen des Helmes. Die Kunststoffteile des Handfunkgerätes, dessen Metallskelett vor ihm glitzerte – die Straße war voller Trümmer. Waffen, Kleidungs-und Ausrüstungsstücke, vielleicht auch Dinge des alltäglichen Gebrauchs, die die Männer bei sich gehabt hatten, die das Haus stürmten. Aber alles, was nicht aus Metall oder Glas bestand, war verschwunden.
Und als hätte diese Erkenntnis einen Schleier von seinen Augen gezogen, sah er nun auch, was mit der Silhouette der Baumreihe auf der anderen Straßenseite nicht stimmte.
Sie war skelettiert. Die Bäume hatten sich in nackte, abgenagte Stämme verwandelt, an deren Ästen nichts mehr war. Aus den Büschen waren bizarre Skulpturen aus gebogenem Draht geworden, und die Erde dazwischen war so tot wie schwarze Lava. Alles Lebende war von diesem Ort entfernt worden, so spurlos und gründlich, als hätte es niemals existiert. Das kriechende Inferno hatte nicht nur das Haus und die Männer, die darin eingedrungen waren, verschlungen, sondern auch alles, was hier draußen existiert hatte.
Von einem Gefühl plötzlich neu aufkommender Panik erfüllt, sah Brenner sich wild auf der Straße um, aber er entdeckte nicht, wonach seine entsetzt aufgerissenen Augen suchten. Der Straßenbelag war übersät mitTrümmerstücken, deren ursprüngliches Aussehen er zum Großteil nicht einmal erraten konnte, aber er sah weder Leichen noch Reste von Kleidung, abgesehen von jener ersten Gürtelschnalle und etwas, das eineungute Ähnlichkeit mit Brillengläsern hatte; Dinge, die man verlieren konnte – zum Beispiel, wenn man auf der Flucht vor jemandem war. Oder Etwas.
»Was zum Teufel tut ihr hier?« Salid kam mit zwei, drei gewaltigen Sätzen herangestürmt und fuchtelte dabei mit beiden Armen. Seine Hände waren jetzt nicht mehr leer, und Brenner begriff, warum er noch einmal ins Haus zurückgelaufen war, obwohl das Gebäude jeden Moment über ihm hätte zusammenbrechen können. Der Palästinenser war jetzt wieder bewaffnet: Er hielt eine Maschinenpistole in der rechten und drei oder vier Reservemagazine in der linken Hand.
»Lauft weiter! Verdammt!« Er versetzte Johannes einen Stoß, der ihn haltlos taumeln ließ. Brenner stolperte von sich aus weiter, auch wenn er das Gefühl hatte, sich bei jedem Schritt übergeben zu müssen. Unter seinen Schuhen knirschten Glas und Metall, und leise, ganz weit entfernt, aber trotzdem gerade noch an der Grenze des Wahrnehmbaren, war da noch immer dieses unheimliche Rascheln und Wispern.
Salid erreichte den Wagen als erster, riß die Tür auf und sprang mit einem Fluch zurück. Eine schwarze, glitzernde Schlammwoge schwappte ihm entgegen und zerspellte auf der Straße vor seinen Füßen in hunderttausend Einzelteile, die auf emsig huschenden Beinchen davonwirbelten. Salid stieß einen Laut aus, der irgendwo zwischen einem Keuchen und einem Schrei lag und sprang einen weiteren Schritt zurück, und auch Brenner und Johannes blieben wieder stehen.
Dieser Wagen würde sie nirgendwo mehr hinbringen. Er war nur noch ein Skelett, pures Metall und Glas, das auf blankgefressenen Felgen schräg wie ein gestrandetes Schiff dastand. Aus dem Armaturenbrett hingen halb aufgelöste Instrumente wie metallene Eingeweide, die nur noch von glitzernden, ihrer Kunststoffisolation beraubten Kupfer-und Messingdrähten gehalten wurden. Lenkrad und Sitze waren vollkommen verschwunden. Der Wagen hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit den ausgebrannten Wracks, die Brenner in seiner Funktion als Versicherungsvertreter dann und wann zu Gesicht bekommen hatte. Nur daß er nicht gebrannt hatte. Etwas hatte ihn regelrecht aufgelöst.
Salid verzog angeekelt das Gesicht und begann nach den winzigen Insekten zu treten, die vor ihm davonhuschten. Sie zerplatzten mit einem sonderbar hellen, weithin hörbaren Geräusch, und Brenners Phantasie hatte sich weit genug von ihren Zügeln losgerissen, um daraus dünne, nach Vergeltung verlangende Schmerzensschreie zu machen.
Die Tiere griffen Salid nicht an. Wer immer sie geschickt was immer sie geschickt – hatte, hatte sie nicht gesandt, um sie zu vernichten. Trotzdem hielt Salid nicht inne, sondern trat immer wilder und mit immer größerer Kraft zu. Seine Schuhe stampften die winzigen Tierchen in den Boden, als zertrete er keine fingernagelgroße Insekten, sondern ein gefährliches Untier, von dem er fürchtete, daß es ihm seine Fänge ins Fleisch trieb, wenn er es nicht mit dem ersten Angriff unschädlich machte. Er stieß immer noch diese sonderbaren, keuchenden kleinen Schreie aus. Und er hörte auch nicht auf, als vor ihm längst nichts mehr war, sondern steigerte sich in eine regelrechte Raserei.
Schließlich hob Brenner die Hand und berührte Salid an der Schulter. »Es ist gut«, sagte er. »Hören Sie auf, Salid. Es ist vorbei.«
Nichts war vorbei, und das wußten sie beide, und es war erst recht nichts gut. Aber wenn schon nicht seine Worte, so war es vielleicht das Gewicht seiner Hand, das den unseligen Bann brach. Salid fuhr herum und schlug seinen Arm so heftig zur Seite, daß Brenner beinahe aus dem Gleichgewicht geraten wäre und ein betäubender Schmerz bis in seine Schulter hinaufschoß. Aber er blickte dabei auch in Salids Augen, und er sah, daß das Feuer des Wahnsinns darin erlosch und einer noch immer tobenden, aber trotzdem anderen Furcht Platz machte. Was Salid jetzt spürte, war Angst; ein gutes Gefühl, gegen das, was zuvor von ihm Besitz ergriffen hatte.