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»Es ist vorbei«, sagte Brenner noch einmal.

Salid atmete hörbar ein. Nervös fuhr er sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Ich … es tut mir leid.«

»Was?« fragte Brenner. »Daß Sie ein menschliches Gefühl gezeigt haben?«

»Ich habe die Kontrolle verloren«, sagte Salid. »Bitte verzeihen Sie.« Er zögerte einen kurzen, aber spürbaren Moment, dann fügte er hinzu: »Ich hasse Spinnen. Es ist albern, aber … Es wird nicht wieder passieren.«

Brenner schwieg. Es waren keine Spinnen gewesen. Nicht nur. Nicht einmal zu einem Großteil. Und drinnen im Haus waren sie zu Millionen über sie hergefallen. Wieso hatte Salid dort nicht so reagiert, wenn er tatsächlich nur an einer Arachnophobie litt?

Er wußte die Antwort, kaum daß er die Frage in Gedanken formuliert hatte, und – was vielleicht schlimmer war – Salid las es deutlich in seinen Augen. Der Palästinenser fürchtete Spinnen ebensowenig wie Maschinengewehre und Kampfhubschrauber oder irgend etwas auf dieser Welt. Das einzige, was er fürchtete, war die Angst. Und für einen Moment hatte sie ihn überwältigt. Er hatte die Kontrolle verloren; über die Situation, über das Geschehen und vor allem über sich selbst, und das war es, was ihm angst machte.

Dann, von einer Sekunde auf die andere, war er wieder er selbst. Er fuhr mit einem Ruck herum, starrte den ausgehöhlten Wagen eine halbe Sekunde lang fast haßerfüllt an und versetzte derTür schließlich einen wuchtigenTritt.

»Damit kommen wir jedenfalls nicht weiter«, sagte er zornig. Er starrte einen Moment ins Leere, drehte sich dann nach rechts, nach links und wieder nach rechts. Brenner konnte regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Zugleich fand er mehr und mehr zu seinem gewohnten Selbst zurück. Auch wenn er vor dem Gedanken zurückschreckte: Brenner war sicher, daß Salid diese Situation begrüßte. Es war eine Herausforderung. Eine Aufgabe, die zu lösen war; etwas, wogegen er kämpfen konnte.

Schließlich drehte sich Salid erneut herum und deutete in westlicher Richtung die Straße hinab. »Dort entlang. Schaffen Sie es noch?«

Brenner nickte, blieb aber trotzdem reglos stehen. Die Straße verlor sich nach vielleicht dreißig, vierzig Metern in vollkommener Finsternis – ihm fiel erst jetzt auf, daß nicht nur sämtliche Straßenlaternen, sondern jede Beleuchtung ausgefallen war – , aber er war davon überzeugt, daß hinter dieser Dunkelheit etwas auf sie wartete. Die Männer, die gekommen waren, um sie zu töten. Oder etwas anderes. Schlimmeres.

»Warum gehen wir nicht dort entlang?« Brenner deutete auf die Baumreihe hinter dem Wagen. Er konnte nicht erkennen, was dahinter lag, vermutete aber, daß es sich um eine kleine Grünanlage oder einen Park handelte; vielleicht schon einTeil des Krankenhausgeländes. Salid hatte ja gesagt, daß sie nur einen Block davon entfernt waren.

»Weil sie damit ganz bestimmt rechnen«, antwortete Salid. »Ich habe keine Lust, einem Dutzend Scharfschützen vor die Zielfernrohre zu laufen.«

Nach allem, was sie in den letzten Minuten gesehen hatten, mußte das selbst in seinen eigenen Ohren lächerlich klingen, aber Brenner widersprach nicht. Tief in sich hatte er längst resigniert. Es war gar nicht Salids Suggestivkraft, die ihn zwang, Dinge zu tun, die er gar nicht tun wollte. Er hatte nicht mehr den Willen, irgend etwas zu tun. Vorhin hatte er Johannes mit einer Marionette verglichen, aber nun begriff er, daß er selbst es war, der an unsichtbaren Fäden hing, ja, sich mit dem letzten bißchen Kraft daran klammerte.

Sie gingen ein Stückweit schweigend die Straße hinunter, wobei Salid sich unentwegt nervös umsah; und noch nervöser mit der Waffe spielte, die er noch immer in der Rechten trug. Die Dunkelheit begleitete sie für eine Weile, aber sie war jetzt nicht mehr so vollkommen wie vorhin, als sie sie nur von außen gesehen hatten. Brenner vermied es am Anfang fast krampfhaft, zu den Häusern hinaufzublicken, an denen sie vorbeigingen. Er hatte Angst, leere Fensterhöhlen zu erblicken, Häuser ohne Türen, ohne Treppengeländer und Stufen, ohne Leben. Doch diese schlimmste aller Vorstellungen zumindest erwies sich als falsch. Schließlich sah er, fast gegen seinen Willen, doch zu der Fassade zur Linken hoch, und sie sah ganz normal aus: ein Haus ohne Licht zwar, aber unversehrt. Die Plage, die die Straße leergefegt hatte, hatte die Gebäude hier und, großer Gott, betete er, das Leben in ihnen – unberührt gelassen.

Plötzlich blieb Salid stehen und hob warnend die Hand. »Dort vorne! « flüsterte er.

Nicht weit vor ihnen begann sich die biblische Finsternis zu lichten; und nicht nur im übertragenen Sinne. Es kam Brenner tatsächlich so vor, als befänden sie sich im Inneren einer schwarzgrauen Nebelbank, die wenige Schritte vor ihnen aufhörte. Dahinter waren flackernde rote und blaue Lichter zu erkennen, und auch die Geräusche waren wieder in die Welt zurückgekehrt. Er hörte Stimmen, Schreie, Sirenen und Rufe, den Lärm von Menschen – sehr vielen Menschen – die aufgeregt durcheinanderliefen. Wie das Licht waren auch die Laute sonderbar gedämpft, als drängen sie durch eine Nebelwand zu ihnen. Oder kämpften darum, Wirklichkeit zu werden.

»Bleibt hier!« befahl Salid. Er huschte geduckt davon und wurde schon nach zwei Schritten zu einem Teil der Schwärze, der sich nur durch seine Bewegung von ihr unterschied. Aber diesmal gehorchte Brenner nicht. Der Gedanke, allein hier zurückzubleiben, war schlimmer als alles, was ihn dort vorne erwarten konnte. Salid warf einen Blick über die Schulter zurück und runzelte mißbilligend die Stirn, aber er unternahm nichts, um Brenner zurückzuhalten.

Sie erreichten das Ende des dunklen Bereiches, das auch nahezu mit dem der Straße identisch war. Salid wedelte warnend mit der Hand – diesmal gehorchte Brenner dem Befehl und blieb stehen, wenn auch nur einen knappen Schritt hinter ihm – preßte sich mit dem Rücken gegen die Backsteinwand des Gebäudes, das die Straßenkreuzung markierte, und ließ sich vorsichtig in die Hocke sinken.

Unendlich langsam schob er sich vor und spähte um die Ecke. Brenner folgte ihm, wobei er sich Mühe gab, Salids Bewegungen zu kopieren.

Was er sah, war eine andere Szene, die er aus zahllosen Filmen und Geschichten kannte und die doch vollkommen anders war: Vor ihnen, allerhöchstens noch fünfzehn oder zwanzig Meter von der Kreuzung entfernt, war eine Straßensperre errichtet worden. Drei Streifenwagen standen mit rotierenden Blaulichtern quer über der Fahrbahn und blockierten sie in ganzer Breite, dahinter waren die ebenfalls von rotierenden Lichtsignalen gekrönten Dächer mehrerer Feuerwehr– und Krankenwagen zu erkennen. Brenner zählte auf Anhieb mindestens ein Dutzend Polizeibeamte, dazu eine ungleich größere Anzahl von Zivilisten – wahrscheinlich Schaulustige – , die sich nur noch widerwillig davon abzubringen zu halten schienen, die Straßensperre einfach zu überrennen. Von weitem näherten sich weitere heulende Sirenen, und er glaubte auch das gefürchtete Hubschraubergeräusch wieder zu hören, war aber nicht ganz sicher.

Salid deutete auf einen Punkt auf der linken Straßenseite. Im ersten Augenblick dachte Brenner, er wollte ihn auf den Wagen aufmerksam machen, der offenbar in die Flanke eines der Streifenwagen hineingefahren war. Dann sah er, was Salid wirklich meinte: Ein Stück hinter den ineinandergekeilten Fahrzeugen standen fünf oder sechs Polizeibeamte, die mit gezogenen Waffen zwei Zivilisten umringten. Sie waren viel zu weit entfernt, um zu hören, was dort drüben gesprochen wurde, aber die Bedeutung der Gesten, die sie beobachteten, war klar. Der Wagen mußte versucht haben, die Straßensperre zu durchbrechen. Es war ein sehr großer, sehr amerikanischer Wagen. Etwas in Brenner löste sich; ein Druck, von dem er erst jetzt, als er nicht mehr da war, überhaupt spürte, daß es ihn gegeben hatte. Wenigstens hatten einige überlebt.