„Könnten Sie den Balken einen Moment lang alleine hochhalten, Doktor?“ fragte Wainright. Conways Einverständnis vorausgesetzt, bückte er sich plötzlich und verschwand weiter hinten im Eingang. „Ich sehe etwas, das uns helfen könnte.“
Conway kam es sehr viel länger als einen Moment vor, während der Lieutenant in dem Schutt im Eingang wühlte, denn der Balken grub sich immer tiefer in seine Schulter. In seinen bis zum äußersten angespannten Rücken- und Beinmuskeln brannte ein nicht enden wollender Krampf Er blinzelte sich den Schweiß aus den Augen und sah, daß Khone mittlerweile anders an das Problem heranging: Statt unentwegt zu ziehen, hatte sie sich dem Verletzten wieder so weit wie zulässig genähert und watschelte jetzt so schnell, wie sie konnte, wieder von ihm weg, bis das Seil straff gespannt war, um den Gogleskaner durch den Ruck freizubekommen.
Zwar bewegte sich der Verletzte bei jedem Ruck ein bißchen, doch einige der vernähten Wunden hatten sich dadurch wieder geöffnet und bluteten nun ungehemmt.
Der Balken drückt mir sämtliche Rückenwirbel zu einer starren Knochensäule zusammen, die jetzt jede Sekunde brechen kann, dachte Conway verärgert.
„Beeilen Sie sich, verdammt noch mal!“ fluchte er laut.
„Ich beeile mich ja“, protestierte Khone, die dabei völlig vergaß, unpersönlich zu bleiben, obwohl sie gar nicht gemeint war.
„Ich komme!“ rief der Lieutenant.
Wainright kam mit einem kurzen, dicken Holzklotz an, den er schnell zwischen Balken und Boden keilte. Jetzt, wo seine malträtierten Schultern und der Rücken entlastet waren, fiel Conway erleichtert auf die Knie. Doch war dieser Zustand nur von kurzer Dauer, denn der Lieutenant hatte die Idee, den Balken ein paar Sekunden lang unter Aufbietung aller Kräfte noch höher zu heben, ihn dann mit der Holzstütze daran zu hindern, wieder abzusacken, und den Vorgang zu wiederholen, bis der Verletzte herausgezogen werden konnte.
Das war ein glänzender Einfall, aber der stoßweise herabrieselnde Schutt und Staub prasselte immer dichter und schneller herunter. Der Verletzte war schon beinahe befreit, als plötzlich ein dumpfes Poltern und das Krachen splitternden Holzes aus dem Inneren des Gebäudes drang.
„Verschwinden Sie!“ schrie Khone, nachdem sie sich auf einen letzten, verzweifelten Ruck mit dem Seil vorbereitet hatte. Doch als sie am Ende ihres watschelnden Anlaufs angelangt war, rutschte die Schlinge über die Füße des Verletzten und löste sich. Khone stolperte und rollte schließlich, verheddert im eigenen Rettungsseil, davon.
Später sollte Conway noch eine lange und qualvolle Zeit mit der Frage verbringen, ob er in diesem Moment richtig oder falsch gehandelt hatte, aber es war einfach keine Zeit gewesen, abzuwägen und das Sozialverhalten von Extraterrestriern mit dem von Terrestriern zu vergleichen — er hatte sich zu diesem Verhalten gezwungen gesehen, weil er nichts anderes hätte tun können. Kurz: Er hielt in seiner taumelnden Flucht aus dem einstürzenden Eingang inne, drehte sich instinktiv um und ergriff den bewußtlosen FOKT an den Füßen.
Durch sein höheres Gewicht und seine größere Stärke bekam er den FOKT leicht frei und schleifte ihn, zusammengekauert und in der Hocke rückwärts gehend, aus der Gefahrenzone des einstürzenden Gebäudes heraus. Als sich der Staub allmählich legte, zog er ihn vorsichtig auf ein weiches Stück Rasen. Fast sämtliche von Khones Nähten waren wieder aufgeplatzt, und außerdem hatte der Verletzte eine Reihe neuer Wunden davongetragen, die allesamt bluteten.
Plötzlich öffnete der FOKT die Augen, versteifte sich und stieß dann ein lautes, anhaltendes Zischen aus, dessen Tonhöhe schwankte, so daß es sich zeitweise fast wie ein Pfeifen anhörte.
„Keine Angst!“ schrie Khone eindringlich. „Es besteht keine Gefahr! Das ist ein Arzt, ein Freund.“
Doch das ungleichmäßige Zischen und Pfeifen wurde immer lauter, und Conway bemerkte, daß die Zuschauer, deren Kreis nicht mehr weit entfernt von ihm war, eingestimmt hatten; und zwar so laut, daß er sich kaum selbst denken hören konnte. Khone torkelte um den Verletzten herum, wobei sie sich ihm gelegentlich bis auf wenige Zentimeter näherte und sich dann wieder entfernte, als führte sie einen komplizierten rituellen Tanz auf.
„Das stimmt“, bestätigte Conway in beruhigendem Ton. „Ich bin kein Feind. Ich habe Sie aus den Trümmern gezogen.“
„Sie dummer, dummer Arzt!“ schimpfte Khone, wobei sie sowohl wütend als auch persönlich klang. „Sie ignoranter Außerplanetarier! Verschwinden Sie.!“
Was dann passierte, gehörte zu den seltsamsten Dingen, die Conway jemals mit eigenen Augen gesehen hatte — und im Orbit Hospital hatte er schon viel gesehen. Der verletzte FOKT rollte herum und sprang mit einem Satz auf die Beine, wobei er unaufhörlich den auf- und absteigenden Pfeifton ausstieß. Khone hatte begonnen, die gleichen Geräusche von sich zu geben, und die langen, steifen Haare standen bei beiden Wesen kerzengerade vom Körper ab, wodurch sich der Effekt eines buntkarierten Musters, den die in rechten Winkeln zueinander liegenden verschiedenfarbigen Haare hervorgerufen hatten, nicht mehr einstellte. Auf einmal berührten sich Khone und der Verletzte und waren augenblicklich miteinander verschmolzen oder, genauer gesagt, an der Berührungsstelle fest zusammengeflochten.
Die steifen Haare an den Seiten ihrer Körper hatten sich wie Kette und Schuß eines in alten Zeiten auf der Erde gewebten Teppichs ineinander geschoben und gegenseitig durchdrungen, und es war klar, daß sie durch keinen äußeren Einfluß voneinander zu trennen waren, ohne die Haare beider FOKTs und wahrscheinlich auch die darunter liegende Haut zu entfernen.
„Lassen Sie uns von hier verschwinden, Doktor“, empfahl Wainright, der oben auf dem Bodenfahrzeug stand und auf die von allen Seiten heranrückenden Gogleskaner deutete.
Conway zögerte, während er einen dritten FOKT beobachtete, der sich auf dieselbe unglaubliche Weise mit Khone und dem Verletzten zusammenschloß. Die langen Stacheln, deren Funktion er nicht gekannt hatte, standen jedem Gogleskaner steif vom Kopf ab, und aus ihren Spitzen tröpfelte ein leuchtend gelbes Sekret. Als er auf das Fahrzeug kletterte, zerriß ihm einer der Stacheln den Overall, drang aber nicht in den Stoff darunter oder in die Haut ein.
Während der Lieutenant mit dem Fahrzeug auf höheres Gelände fuhr, um einen besseren Überblick über die Vorgänge zu haben, gab Conway die Reste des gelben Sekrets, die rund um den Riß am Anzug hafteten, in seinen Analysator ein. Durch die Ergebnisse konnte er berechnen, daß der direkt in die Blutbahn eines Menschen gebrachte Inhalt eines Stachels zu sofortiger Lähmung und der von dreien oder mehr zum Tode führen würde.
Die Gogleskaner schlossen sich zu einem Gruppenwesen zusammen, das mit jeder Minute größer wurde. Aus nahegelegenen Gebäuden, vertäuten Schiffen und sogar aus den umliegenden Gehölzen eilten einzelne Gogleskaner herbei, um sich dem riesigen, beweglichen, stechenden Teppich anzuschließen, der um große Bauwerke herumkroch und über kleine hinüber, als ob er nicht wüßte oder sich nicht darum kümmerte, was er tat. Hinter sich ließ er eine Spur aus zerstörten Maschinen, Fahrzeugen, toten Tieren und sogar einem versenkten Schiff zurück. Das Schiff war festgemacht gewesen, und als der Rand des Gruppenwesens aufs Deck gestolpert war, hatte es sich mit einem Ruck auf die Seite gelegt und war mit den Masten und den Aufbauten gegen den Pier geschlagen.