Die Stühle waren riesengroß, und man konnte sich nicht einfach darauf setzen, sondern mußte auf sie hinaufklettern. Und um auf die stark gemaserte und auf Hochglanz polierte Holzplatte des gewaltigen, ebenfalls handgefertigten Eßtisches zu sehen, mußte man sich auf die Zehenspitzen stellen. Das, dachte der erwachsene, träumende Conway, versetzte ihn in das Alter von acht Jahren zurück.
Ob dieser Effekt auf O'Maras Medikament oder auf eine ganz eigene psychologische Marotte zurückzuführen war, wußte er zwar nicht, doch verfolgte er den Traum aus dem Blickwinkel eines erfahrenen und umfassend gebildeten Erwachsenen und gleichzeitig mit den Gefühlen eines nicht besonders glücklichen achtjährigen Kindes.
Seine Eltern waren Kolonisten der dritten Generation auf dem mineralienreichen, von der Erde besiedelten Planeten Braemar gewesen, der bis zum Zeitpunkt ihres Todes bereits erforscht, urbar und sicher gemacht worden war, zumindest was die von den Agrar- und Bergbaustädten genutzten Gebiete und den einzigen Raumhafen betraf.
Seine ganze Jugend hatte Conway am Rand dieser Raumhafenstadt verbracht, die eine riesige, sich ständig ausbreitende Zusammenballung von zwei- und dreigeschossigen Gebäuden war. Daß die Blockhütten die weiß aufragenden Blocks der Fabrikationskomplexe, der Verwaltungszentrale, der Raumhafengebäude und des Krankenhauses zahlenmäßig weit übertrafen, oder die Möbel, die nichtmetallischen Haushaltsgegenstände, die Tonwaren und die Schmuckgegenstände samt und sonders selbst angefertigt waren, hatte er für völlig normal gehalten. Wie er heute mit der späten Einsicht des reifen Erwachsenen wußte, war Holz auf Braemar reichlich vorhanden und billig, während von der Erde importierte Möbel und Geräte sehr viel kosteten. Die Kolonisten waren jedenfalls auf die Eigenschöpfungen sehr stolz gewesen und hatten es auch gar nicht anders gewollt.
Dafür wurden die Blockhütten jedoch von modernen Kernfusionsgeneratoren mit Strom und Licht versorgt, und auf den selbstgebauten Möbeln standen hochentwickelte Monitore mit eingebauten Sender-Empfängern, deren Hauptzweck, soweit es den jungen Conway betraf, darin bestand, tagsüber zu unterrichten und abends zu unterhalten. Auch das Boden- und Lufttransportsystem war modern, schnell und so sicher, wie es unter den damals herrschenden Umständen möglich war; nur selten stürzte ein Flugzeug ab und riß alle Passagiere mit sich in den Tod.
Es war nicht einmal der Verlust der Eltern, der ihn so unglücklich gemacht hatte. Conway war viel zu jung gewesen, um von ihnen etwas anderes als ihre unbestimmte, beruhigende Gegenwart in Erinnerung zu behalten, und als man sie zu dem Grubenunglück gerufen hatte, bei dessen Einsatz sie ums Leben gekommen waren, war er in der Obhut eines jungen Paares geblieben, das direkt nebenan gewohnt hatte. Bis nach der Beerdigung war er bei den Nachbarn geblieben, und dann hatte ihn der älteste Bruder seines Vaters bei sich und seiner Familie aufgenommen.
Seine Tante und sein Onkel waren freundliche, verantwortungsbewußte und sehr beschäftigte Leute gewesen, die nicht mehr zu den Jüngsten zählten. Die eigenen Kinder waren schon fast erwachsen und hatten deshalb für den kleinen Conway, von anfänglicher Neugier abgesehen, nur sehr wenig Zeit. Nicht so die im Haus lebende Großmutter, Conways Urgroßmutter, die entschieden hatte, daß das kürzlich zur Waise gewordene Kind ihrer alleinigen Verantwortung zu unterstehen habe.
Ihr Alter war geradezu biblisch — jeder, der sie danach fragte, wagte es kein zweites Mal —, und sie wirkte zwar so zerbrechlich wie ein Cinrussker, aber körperlich und geistig war sie immer noch sehr rege. Sie war überhaupt das erste Kind, das in der Kolonie auf Braemar geboren worden war, und als sich Conway für derartige Dinge zu interessieren begann, erzählte sie ihm aus ihrem unerschöpflichen Vorrat Geschichten über die frühen Tage der Kolonie, die viel aufregender — wenn auch vielleicht weniger sachlich — waren als die Fakten auf den Geschichtsvideos.
Ohne zu jener Zeit bereits zu verstehen, was damit gemeint war, hatte Conway seinen Onkel zu einem Besucher sagen hören, daß die alte Dame und das Kind so gut miteinander auskämen, weil sie das gleiche geistige Alter hätten. Außer wenn ihn seine Urgroßmutter hin und wieder bestrafte, was nur äußerst selten und in den späteren Jahren gar nicht mehr vorkam, hatte er bei ihr immer viel zu lachen. Wenn sich Zwischenfälle ereigneten, an denen er nicht ganz unschuldig war, verteidigte sie ihn, und sie trat auch dann noch vehement für sein Haustiergehege ein, als dieses allmählich von einem kleinen eingezäunten Pferch im Garten hinter dem Haus zu etwas anwuchs, das eher einem Wildpark im Miniaturformat ähnelte, obwohl sie äußerst hartnäckig darauf bestand, daß er keine Tiere bekam, für die er nicht ordentlich sorgen konnte.
Er besaß sowohl einige terrestrische Tiere als auch eine ganze Reihe der kleinen und harmlosen, auf Braemar einheimischen Pflanzenfresser — die hin und wieder krank wurden, sich häufig durch ihre Tolpatschigkeit selbst verletzten und sich praktisch ständig fortpflanzten. Seine Urgroßmutter hatte für ihn sogar die entsprechenden Veterinärvideos angefordert, obwohl derartiges Material für ein Kind als viel zu anspruchsvoll erachtet wurde. Doch dank der Videos und der Ratschläge der Urgroßmutter sowie durch den Umstand, daß er praktisch die gesamte Zeit, die er nicht mit Lernen verbrachte, für seine Tiere opferte, gediehen die Bewohner seines Geheges prächtig. Zur Verwunderung seiner Tante und seines Onkels warfen sie sogar bald einen nicht unbeträchtlichen Gewinn ab, da sich bei den Kindern in der Nachbarschaft rasch herumsprach, welch gesunde, in Haus und Garten zu haltende Tiere man bei ihm erwerben konnte.
Der kleine Conway war immer viel zu beschäftigt gewesen, um überhaupt zu bemerken, daß er in Wirklichkeit ein sehr einsamer Junge war — bis seine Urgroßmutter und einzige Freundin plötzlich das Interesse an Gesprächen über seine Tiere und anscheinend auch an ihm verlor. Nun begann der Arzt, ihr regelmäßige Besuche abzustatten, und bald darauf nahmen es seine Tante und sein Onkel abwechselnd auf sich, Tag und Nacht bei ihr im Zimmer zu verbringen, bis sie es ihm eines Tages sogar verboten, seine einzige Freundin zu sehen.
Natürlich war er deshalb furchtbar unglücklich. Und der erwachsene Conway, der sich nicht nur an die ganze Episode erinnerte, sondern sie auch noch einmal durchlebte, wußte, daß ihm noch mehr Unglück bevorstand. Der Traum war im Begriff, zum Alptraum zu werden.
Eines Abends hatten sie vergessen, die Tür abzuschließen, und als sich Conway ins Schlafzimmer schlich, saß seine Tante mit dem Kinn auf der Brust dösend auf einem Stuhl neben dem Bett. Seine Urgroßmutter lag mit ihm zugewandtem Gesicht im Bett und hatte Mund und Augen weit aufgerissen, aber sie sagte kein Wort und schien ihn gar nicht zu sehen. Als er sich dem Bett näherte, hörte er ihren rauhen, unregelmäßigen Atem und bemerkte den Geruch. Auf einmal fürchtete er sich, doch er streckte die Hand aus, um den dünnen, abgezehrten Arm zu berühren, der neben dem Bettzeug lag. Er dachte, sie würde ihn vielleicht ansehen oder etwas sagen oder ihn womöglich so anlächeln, wie sie es noch bis vor ein paar Wochen immer getan hatte.
Der Arm war kalt.
Der erwachsene und medizinisch bewanderte Conway wußte, daß der Blutkreislauf in den Extremitäten bereits versagt hatte und die alte Dame nur noch Minuten zu leben hatte, und das wußte auch schon der blutjunge Conway, ohne den Grund dafür zu kennen. Unfähig, sich zurückzuhalten, versuchte er, sie zu rufen, und seine Tante wachte auf Sie blickte auf die Urgroßmutter, packte Conway fest am Arm und drängte ihn aus dem Schlafzimmer.
„Verschwinde!“ rief sie und begann zu weinen. „Alles kannst du dir hier nicht erlauben!“
Als Conway jetzt in seinem kleinen Zimmer auf dem Stützpunkt des Monitorkorps auf Goglesk aufwachte, hatte er feuchte Augen, und nicht zum erstenmal fragte er sich, in welchem Maße der Tod der steinalten, zerbrechlichen und warmherzigen Urgroßmutter sein späteres Leben beeinflußt hatte. Der Schmerz und das Gefühl des Verlustes waren zwar abgeklungen, aber nicht die Erinnerung an die völlige Hilflosigkeit, und ein solches Gefühl hatte er nie wieder erleben wollen. Im späteren Leben, als er immer wieder mit Krankheiten, Verletzungen und drohendem Tod konfrontiert worden war, hatte er stets etwas — häufig sogar ziemlich viel — dagegen unternehmen können. Und bis zu seiner Ankunft auf Goglesk hatte er sich nie wieder dermaßen hilflos gefühlt wie damals in seiner Kindheit.