Durch chemische Substanzen können sich Muskeln einerseits entspannen, andererseits aber auch verkrampfen dachte Conway, nachdem er seinen Blick wieder au Wainrights Bildschirm konzentriert hatte.
Dem großen Gegenstand in der Bildmitte fehlte sowohl die Symmetrie als auch der sich wiederholende Aufbau einer Pflanze — er sah eher wie ein Blatt Papier aus, das zu einer lockeren, verdrehten Kugel zusammengeknüllt war. Aber falls dieser Gedanke tatsächlich zutraf, mußte sich das Raubtier selbst in diese Form gewunden haben. Unwillkürlich schauderte es Conway.
Das Gift der Gogleskaner war eine äußerst wirksame Substanz.
Aufgeregt sagte er zu Wainright: „Wie klingt das? Bei den versteinerten FOKTs handelt es sich um diejenigen, die den ersten Angriff des Raubtiers nicht überlebt haben. Einige von ihnen sind miteinander verbunden, was darauf hindeutet, daß sie Teil einer größeren Gruppe gewesen sind. Dieses Gruppenwesen hat das Raubtier mit allen verfügbaren Stacheln angegriffen oder sich dagegen verteidigt. Die dabei in den Körper injizierte Menge Gift muß zu vielfachen Muskelkrämpfen bei der Bestie geführt haben, die sich im Todeskampf buchstäblich selbst verknotet hat. Können Sie diesen Knoten vom Computer entwirren lassen?“
Wainright nickte, und schon bald war die verdrehte, gewundene Form in der Bildmitte von einer schwächeren Darstellung umgeben, die sich langsam entfaltete. Das mußte die Auflösung der seltsamen Form sein, dachte Conway, denn alles andere ergab keinen Sinn. Hin und wieder bat er um vergrößerte Ausschnitte vom Knochenbau des gewaltigen Fossils, und jedesmal wurde seine Theorie bestätigt. Doch der Lieutenant war mehrmals gezwungen, die Größe der sich ausbreitenden Darstellung zu verringern, da sie immer wieder über den Bildschirmrand hinauswuchs.
„Allmählich sieht das wie ein Vogel aus“, stellte Wainright fest. „Bestimmte Teile des Flügels wirken sehr zerbrechlich. Im Grunde scheint die gesamte Darstellung ausschließlich aus Flügeln zu bestehen.“
„Das kommt daher, weil die Versteinerung lediglich aus dem Skelett und der Haut besteht“, entgegnete Conway. „Die Muskeln und das Zellgewebe an den Knochen müssen vollständig verlorengegangen sein. An den Stellen, wo Sie gerade auf den Flügel zeigen. jetzt, wo Sie mich darauf gebracht haben, mir das Gebilde als Vogel vorzustellen. müßte die Flügeldicke um das Fünf- oder Sechsfache gesteigert werden. Aber bei dem Knochenbau können die Flügel unmöglich steif gewesen sein. Ich würde sagen, der Vogel hat mit den Flügeln nicht geschlagen, sondern eher wellenförmige Bewegungen gemacht und sich auf diese Weise mit großer Geschwindigkeit fortbewegt. Und sehr interessant ist dieser seitliche Spalt an den vorderen Flügelkanten. Die erinnern mich an die Ansaugöffnungen bei den alten Düsenflugzeugen, nur daß diese Öffnungen hier Zähne haben.“
Er sprach nicht weiter, weil Khone zögernd mit der Spritze in seinen Handrücken stach. Zum erstenmal konnte Conway nachvollziehen, was Patienten durchzustehen hatten, die sich in den Händen eines auszubildenden medizinisch-technischen Assistenten befanden.
„Die Flügelgelenke am Körper deuten darauf hin, daß die Mäuler an den Flügelvorderkanten beim Schwimmen auf- und zugemacht worden sind und dabei alles verschlungen haben, was ihnen in den Weg gekommen ist. Die aufgenommene Nahrung ist dann durch zwei Speiseröhren in den Magen gelangt, der sich in dem zylindrischen Wulst entlang der Mittellinie befunden hat“, fuhr Conway fort, als die Gogleskanerin endlich die richtige Vene gefunden hatte. „Die Vorderkanten der Flügel waren durch eine dickere Haut geschützt, die wahrscheinlich nicht von Stacheln durchstochen werden konnte, und der Magen war vermutlich imstande, das Gift der FOKTs zu verarbeiten, obwohl es tödlich ist, wenn es durch weichere Hautbereiche direkt in die Blutbahn gespritzt wird.
Die einzige Gegenwehr, die die FOKTs leisten konnten, bestand darin, sich miteinander zu verbinden und sich dem Vogel als festgefügter Wall in den Weg zu stellen“, fuhr er aufgeregt fort. „Ziemlich viele von ihnen mußten sterben, bevor sich das Gruppenwesen um das Raubtier zusammenzog und es zu Tode stach. Das läßt sich aus der unvollständigen Versteinerung entnehmen. Aber wie der Raubvogel als Ganzes auf die Gruppenmitglieder gewirkt haben muß, während sie geistig mit ihren sterbenden Freunden verbunden waren, daran möchte ich lieber gar nicht erst denken.“
Innerlich schauderte ihm bei der Vorstellung, wie die FOKTs alle gelitten haben und jedesmal fast gestorben sein mußten, wenn einer aus der Gruppe umgekommen war. Und falls die Angriffe dieses Raubtiers regelmäßig vorgekommen waren, hatten sie das viele Male durchgemacht. Noch schlimmer war, daß sie durch die Erinnerung früherer Überlebender bereits alle wußten, was ihnen bei einem Angriff bevorstand — all die Angst und die Qualen und das ständig miterlebte Sterben anderer.
Zuletzt begriff Conway auch die Schwere der Rassenpsychose, von der die gesamte gogleskanische Spezies ergriffen worden war. Als Individuen fürchteten und haßten die FOKTs den Zusammenschluß und jede unmittelbare körperliche oder geistige Berührung oder Zusammenarbeit, die zu einer möglichen Verbindung zur Gruppe führte. Sich unterbewußt zusammenzuschließen bedeutete, erinnerte Qualen erneut durchleben zu müssen, Qualen, die nur durch blinde Zerstörungswut gelindert werden konnten, die wiederum die Fähigkeit, zu denken oder die eigenen Handlungen zu kontrollieren, auslöschten. Die Angst der FOKTs vor dieser bestimmten Raubtierart mußte ungeheuer gewesen sein, und obwohl ihr alter Feind entweder ausgestorben war oder immer noch im Meer lebte, waren sie nicht in der Lage gewesen, ihn zu vergessen oder eine weniger unsinnige Methode der Selbstverteidigung zu entwickeln.
Das Hauptproblem bestand nun darin, daß der Schutzmechanismus selbst Jahrtausende nach dem Zeitpunkt, als er zwingend notwendig gewesen war, heute noch immer so überempfindlich reagierte, daß er nicht nur durch eine tatsächliche, sondern auch durch eine eingebildete oder eventuelle Bedrohung ausgelöst werden konnte.
Endlich war Khone mit der Entnahme der Blutprobe fertig. Conways Handrücken fühlte sich zwar wie ein Nadelkissen an, doch sagte er über den ersten chirurgischen Eingriff der gogleskanischen Ärztin an einem Außerplanetarier nur äußerst Schmeichelhaftes, wobei er jedes einzelne Wort durchaus ernst meinte. Während Khone den Inhalt der Spritze vorsichtig in eine sterile Phiole füllte, blickte Conway erneut auf den Bildschirm.
Das Raubtier war jetzt vollständig ausgebreitet, und der Lieutenant hatte die Vergrößerung wiederum reduziert, damit die Darstellung in den Bildschirmrahmen paßte. Außerdem hatte Wainright sämtliche verfügbaren Daten und Theorien über die Färbung, die wahrscheinliche Fortbewegungsart und die mit den Flügelschlägen übereinstimmenden Bewegungen des Munds und der Zähne aufgelistet. Langsam drängte sich dann etwas in die Mitte des Großbildschirms: eine gewaltige und schreckliche dunkelgraue Gestalt von mehr als acht Metern Durchmesser, die wie ein gigantischer terrestrischer Stachelrochen schwerfällig mit den Flügeln schlug und alles, was sich in ihrem Weg befand, verschlang, zerriß und auffraß.
Das also war der Alptraum der Gogleskaner aus ihrer vorgeschichtlichen Vergangenheit, und die Körper der rekonstruierten versteinerten FOKTs stellten sich jetzt nur noch als winzige Farbtupfer am unteren Bildschirmrand dar.
„Wainright!“ rief Conway in eindringlichem Ton. „Schalten Sie sofort das Bild ab!“
Doch es war bereits zu spät. Khone hatte sich nach beendeter Arbeit sofort dem Bildschirm zugewandt — und war nun mit der dreidimensionalen Darstellung einer sich bewegenden und scheinbar lebendigen Kreatur konfrontiert worden, die bis dahin nur in ihrem Unterbewußtsein existiert hatte. In der beschränkten Größe des Raums war ihr Notruf von ohrenbetäubender Lautstärke.