Als Conway nicht reagierte, fuhr Naydrad fort: „Wir haben Ihr Hilfsangebot vorausgesehen. Deshalb ist Murchison dortgeblieben, um Prilicla zu helfen. Durch seine empathischen Fähigkeiten braucht der Cinrussker, wie Sie ja selbst wissen, nicht in unmittelbarer Nähe der Verletzten arbeiten. Darum kann er einen relativ hohen Sicherheitsabstand einhalten, während sich Murchison unter die Verletzten begibt, wie Sie es getan hätten, wenn Sie an den Unglücksort geflogen wären.“
„Doktor“, brach Danalta sein langes Schweigen, „Pathologin Murchison erhält abwechselnd von mehreren großen, äußerst muskulösen Lebewesen ihrer eigenen oder anderer Spezies Hilfe, die in schweren Rettungstechniken ausgebildet sind. Diese Lebewesen sind dafür verantwortlich, die Verletzten auf Anweisung der Pathologin aus den Trümmern zu bergen und dafür zu sorgen, daß Murchison nicht von denselben Trümmern gefährdet wird.
Ich erwähne das nur, Doktor, um Sie bezüglich der Sicherheit Ihrer Lebensgefährtin zu beruhigen“, fügte Danalta hinzu.
Nach den eher barschen Worten Naydrads klang der höfliche und respektvolle Ton Danaltas beinahe unterwürfig. Doch auch die TOBS hatten als notwendige Ergänzung zu ihren Fähigkeiten zur defensiven und offensiven Schutzanpassung ein gewisses Maß an Empathie entwickelt, und Respekt bewirkte bei ihnen eine Verwandlung, ob diese nun wirklich oder nur vorgetäuscht war.
„Das war sehr rücksichtsvoll von Ihnen, Danalta“, bedankte sich Conway bei dem Gestaltwandler und wandte sich dann wieder an Naydrad. „Wenn ich mir allerdings Prilicla beim Sortieren der Verletzten vorstelle, dann.“
Allein die Vorstellung genügte, um Conway und jeden anderen, der den kleinen Empathen kannte, schaudern zu lassen.
Schon als der Empath Mitglied des medizinischen Teams der Rhabwar gewesen war, hatten die Reichweite und die Empfindlichkeit seiner empathischen Fähigkeiten unschätzbaren Wert besessen, und obwohl Prilicla jetzt das Team leitete, hatte sich an den äußeren Umständen nichts geändert. Der Empath konnte die emotionale Ausstrahlung der Verletzten in einem Wrack spüren, insbesondere von denen, die sich nicht rührten, schwer verwundet waren und anscheinend nicht mehr lebten, und mit absoluter Genauigkeit feststellen, in welchen Schutzanzügen Leichen und in welchen Überlebende steckten. Das gelang ihm, indem er sich auf die restliche emotionale Ausstrahlung des Gehirns des oftmals tief bewußtlosen Verletzten einstellte. Durch die Wahrnehmung der Empfindungen des bewußtlosen Gehirns und die Analyse der Ergebnisse konnte er erkennen, ob Hoffnung darauf bestand, den noch vorhandenen Lebensfunken neu zu entfachen. Wenn ein Überlebender zum Retten übrigbleiben sollte, mußte man sich mit Raumunfällen auf dem schnellsten Wege befassen, und Priliclas empathische Fähigkeiten hatten dabei entscheidende Zeit gespart und sehr viele Leben gerettet.
Diese Fähigkeiten forderten jedoch einen hohen Preis, denn in vielen Fällen mußte Prilicla mit jedem der Verletzten lange oder kurze Zeit leiden, bevor derartige Diagnosen oder Beurteilungen abgegeben werden konnten. Aber die Opfer des Unfalls im Meneldensystem zu sortieren würde für Prilicla bedeuten, auf emotionales Leid von einer völlig neuen Größenordnung zu stoßen. Zum Glück konnten Murchisons Empfindungen für den kleinen Empathen nur als geradezu blindwütig mütterlich bezeichnet werden, und sie würde bestimmt sicherstellen, daß der Cinrussker dem Sturm emotionaler Ausstrahlungen — all die Schmerzen und die panische Angst und das Leid der Verletzten und ihrer am Leben gebliebenen Freunde —, der in dieser zerstörten Wohneinheit tobte, nur aus allergrößter Entfernung und so kurz wie möglich ausgesetzt war.
Zum Sortieren von Unfallopfern war die Anwesenheit eines Chefchirurgen am Ort des Geschehens erforderlich. Prilicla zählte zu den besten Chirurgen des Hospitals, wobei ihm eine Pathologin zur Seite stand, die nur von denjenigen Pathologen übertroffen wurde, die den Rang eines Diagnostikers einnahmen. Mit vereinten Kräften müßten die beiden in der Lage sein, die besonders entsetzliche Aufgabe, den Zustand der Verwundeten zu beurteilen, ohne Verzögerung oder Unschlüssigkeit zu bewältigen.
Dabei würden sie sich nach Verfahren richten, die in ferner Vergangenheit für umfangreiche medizinische Notfälle festgelegt worden waren, zu einer Zeit also, als Luftangriffe, Bombardements, terroristische Bombenanschläge und ähnliche Auswirkungen als Folge der bei verschiedenen Spezies vorkommenden Massenpsychose namens Krieg die Zahl der Todesopfer reiner Naturkatastrophen unnötig vergrößert hatten. In solchen Zeiten konnte man weder medizinische Mittel noch Zeit und Mühe für hoffnungslose Fälle verschwenden, und das war auch der Grundgedanke, der hinter dem Sortieren von Verletzten steckte.
Dabei wurden die Unfallopfer nach der Schwere der Verletzungen eingeschätzt und in drei Gruppen aufgeteilt. Die erste enthielt die Verunglückten mit oberflächlichen oder nicht tödlichen Verletzungen, diejenigen, die an einem seelischen Trauma litten, sowie diejenigen, die nicht sterben würden, selbst wenn sich die Behandlung verzögern sollte, und warten konnten, bis der Transport zu den Krankenhäusern ihrer Heimatplaneten möglich war. Die zweite Gruppe umfaßte die Wesen, die so schwer verwundet waren, daß ihr Zustand trotz aller Maßnahmen zum Tod führen würde, und denen man die letzten Augenblicke vor dem Lebensende nur so angenehm wie möglich gestalten konnte. In der dritten und wichtigsten Gruppe befanden sich schließlich diejenigen, die zwar schwer verletzt waren, aber recht gute Überlebenschancen besaßen, wenn die angezeigte Behandlung ohne Verzögerung vorgenommen werden konnte.
Bei den Verletzten, die man ins Orbit Hospital schickte, handelte es sich um die der dritten Gruppe, dachte Conway, als er gerade auf eine weitere vorbeikommende Trage einen Blick warf, deren Druckhülle aufgeblasen war. Der darunter liegende organische Inhalt war von den Geräten zur Lebenserhaltung dermaßen verdeckt, daß man nicht einmal mit Sicherheit seine physiologische Klassifikation bestimmen konnte. Nach Conways Auffassung handelte es sich bei dem Patienten um einen Grenzfall zwischen den Gruppen zwei und drei.
„Das ist der letzte Verwundete dieses Flugs, Doktor“, sagte Naydrad schnell. „Wir müssen gleich wieder los, um den nächsten Schub zu holen.“
Die Kelgianerin machte sich davon und näherte sich mit wellenförmigen Bewegungen dem Bordtunnel der Rhabwar. Danalta nahm wieder die Form einer dunkelgrünen Kugel an, die außer einem Auge, mit dem er Conway betrachtete, und einem Mund, mit dem er ihn ansprach, keine weiteren Merkmale aufwies.
„Sie werden bereits bemerkt haben, Doktor, daß Chefarzt Prilicla die chirurgischen Fähigkeiten seiner Kollegen äußerst hoch einschätzt und außerdem überaus abgeneigt ist, auch nur einen der Verletzten in die Gruppe der hoffnungslosen Fälle einzuordnen.“
Als der JOBS schnell hinter Naydrad herrollte, wurde der Mund zu einer glatten Fläche, und das Auge zog sich in die Kugel zurück.
13. Kapitel
Von der Rückkehr der Rhabwar mit der letzten Fuhre von Verletzten aus dem Meneldensystem erfuhr Conway, als er gerade seine erste Diagnostikerversammlung besuchen wollte. Da er das neueste Mitglied auf Probe war, hätte man eine plötzliche Absage, nur um ein paar Worte mit Murchison zu wechseln, höchstwahrscheinlich für unhöflich und geradezu aufsässig gehalten, und darum sollte sich seine nächste Zusammenkunft mit Murchison erneut verzögern. Darüber empfand er zwar in erster Linie Erleichterung, wofür er sich allerdings insgeheim furchtbar schämte. Er nahm Platz und rechnete nicht damit, in einer solch erlauchten Runde irgendeinen bedeutenden Beitrag leisten zu können.