Wieder ging Conway die Erinnerung an den telepathischen Kontakt mit einem Ungeborenen durch den Kopf, einem Ungeborenen, das als geistloser Beschützer geboren worden war — als dieser Beschützer. Ihm war klar, daß er nicht logisch dachte, aber er wollte kein Lebewesen aufgeben, dessen Gedankenwelt er so genau kennengelernt hatte, bloß weil es aus Gründen der Evolution eine Art Gehirntod erlitten hatte.
„Nein“, antwortete er bestimmt.
„Die übrigen Möglichkeiten sind noch schlechter“, sagte der Tralthaner.
„Daß Sie das so sehen würden, hatte ich gehofft“, entgegnete Conway.
„Ich verstehe“, sagte Thornnastor. „Aber mit Ihrem ursprünglichen Vorschlag bin ich auch nicht besonders einverstanden. Die Maßnahme ist — gelinde gesagt — äußerst drastisch und bei einer panzerbewehrten Spezies beispiellos. Ein derart komplizierter Eingriff stellt bei einem Patienten mit vollem Bewußtsein und uneingeschränkter Bewegungsfähigkeit einen.“
„Der Patient wird bewußtlos und ruhiggestellt sein“, fiel ihm Conway ins Wort.
„In Ihrem Kopf scheint mir zur Zeit ein zu großes Durcheinander zu herrschen, das vielleicht auf die vielen verschiedenen Bänder zurückzuführen ist, die Sie darin gespeichert haben, Conway“, sagte Thornnastor in einem für tralthanische Verhältnisse leisen Ton. „Außerdem möchte ich Sie daran erinnern, daß der Patient nicht ruhiggestellt werden kann, egal, für wie lange, weder durch Haltegurte noch durch Betäubungsmittel, ohne daß es zu irreversiblen Stoffwechseländerungen kommt, die rasch zur Bewußtlosigkeit und zum Tod führen. Der FSOJ befindet sich ständig in Bewegung und ist fortwährenden Angriffen ausgesetzt, und das innere Sekretionssystem reagiert in einer Weise, die. Aber das wissen Sie ja genausogut wie ich, Conway! Fühlen Sie sich wohl? Haben Sie vielleicht. vorübergehende psychologische Probleme? Möchten Sie, daß ich für eine Weile die Verantwortung übernehme?“
Murchison hatte gerade ein Gespräch über Kommunikator geführt und deshalb den Anfang von Thornnastors Ausführungen nicht mitbekommen.
Besorgt musterte sie Conway und fragte sich offenbar, was mit ihm nicht stimmte oder vielmehr was nach der Ansicht ihres Chefs nicht mit ihm in Ordnung war. Dann sagte sie: „Eben hat mich Prilicla angerufen. Er wollte seine Vorgesetzten nicht in einer womöglich wichtigen medizinischen Erörterung unterbrechen, hat aber von einer ständigen Zunahme und qualitativen Veränderung der emotionalen Ausstrahlung sowohl des Beschützers als auch des Ungeborenen berichtet. Den Anzeichen nach bereitet sich der Beschützer auf große Anstrengungen vor, und das hat wiederum zu einer Zunahme der Geistestätigkeit beim Ungeborenen geführt. Prilicla möchte wissen, ob du irgendwelche Anzeichen für den Versuch eines telepathischen Kontakts wahrgenommen hast. Er sagt, das Ungeborene gibt sich alle Mühe.“
Conway schüttelte den Kopf und sagte zu Thornnastor: „Bei allem Respekt, diese Informationen standen schließlich in meinem ursprünglichen Bericht über die FSOJ-Lebensform, den ich Ihnen gegeben habe, und mein Gedächtnis hat keineswegs gelitten. Für das Angebot, die Verantwortung zu übernehmen, danke ich Ihnen, und Ihren Rat und Ihre Hilfe nehme ich gerne an, aber ich habe keine psychologischen Probleme, und das eben von Ihnen erwähnte Durcheinander in meinem Kopf ist nicht größer als sonst.“
„Ihre Bemerkungen über die Ruhigstellung des Patienten haben auf etwas anderes schließen lassen“, erwiderte Thornnastor nach einer kurzen Pause. „Ich bin froh, daß Sie sich wohl fühlen, aber was Ihre chirurgischen Absichten betrifft, so bin ich darüber nicht ganz so glücklich.“
„Ich bin mir ja selbst nicht einmal vollkommen sicher, ob ich richtig liege“, räumte Conway ein. „Aber zumindest ist meine Unentschlossenheit weg, und das von mir beabsichtigte Verfahren beruht auf der Annahme, daß wir zu stark von dem Lebenserhaltungsmechanismus des FSOJs und dem Beharren auf körperlicher Beweglichkeit beeinflußt sind.“
Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie Priliclas Gestalt noch verschwommener wurde, als der Empath heftig zu zittern anfing. Conway brach den Satz ab und sagte in seinen Kommunikator: „Ziehen Sie sich zurück, mein kleiner Freund. Bleiben Sie mit uns in Verbindung, aber begeben Sie sich nach draußen auf den Korridor. Die emotionale Ausstrahlung wird hier ziemlich wilde Ausmaße erreichen, also verschwinden Sie lieber schnell.“
„Das hatte ich gerade vor, mein Freund“, erwiderte der Cinrussker. „Aber auch Ihre eigene emotionale Ausstrahlung ist für keinen von uns beiden angenehm. Ich spüre Entschlossenheit und Besorgnis und habe das Gefühl, daß Sie sich zu etwas zwingen, das Sie normalerweise nicht tun würden. Entschuldigung. In meiner Sorge um einen Freund habe ich Dinge angesprochen, die eigentlich als vertraulich gelten sollten. Ich gehe jetzt. Viel Glück, mein Freund.“
Bevor Conway etwas erwidern konnte, berichtete eine der Kelgianerinnen mit sich nachdrücklich kräuselndem Fell, der Geburtskanal beginne sich zu weiten.
„Immer mit der Ruhe“, besänftigte Conway die Schwester, während er die Scannerbilder betrachtete. „Bis jetzt passiert im Innern noch nichts. Legen Sie den Patienten doch bitte so auf die linke Seite, daß sich der rechte Teil des Rückenpanzers oben befindet. Das Operationsfeld wird sich in der Mitte der markierten Stelle achtunddreißig Zentimeter rechts von der Medianlinie des Panzers befinden. Fahren Sie mit den momentanen Lebenserhaltungsmaßnahmen fort, bis ich Ihnen Anweisung gebe aufzuhören, aber mit ein bißchen mehr Begeisterung, falls Sie das fertigbringen. Auf mein Zeichen hin wird das Ruhigstellungsteam die Gliedmaßen des Patienten bewegungsunfähig machen, wobei besonders darauf zu achten ist, die Tentakel zu voller Länge auszustrecken und mit Klammern und Pressorstrahlen festzuhalten. Ich bin gerade zu dem Schluß gekommen, daß diese Aufgabe auch ohne einen während der Operation auf dem Tisch zappelnden und sich windenden Patienten schwierig genug sein wird. Bei der Operation möchte ich nur die unbedingt notwendige Minimalbesetzung des OP- und Hilfspersonals im Raum haben, und diejenigen, die anwesend sind, haben ihre Gedankengänge nach meinen Anordnungen unter Kontrolle zu halten. Haben Sie Ihre Anweisungen verstanden?“
„Ja, Doktor“, bestätigte die Kelgianerin, aber ihr Fell zeigte Zweifel und Mißbilligung. Eine Folge von Erschütterungen, die sich vom Boden durch seine Schuhe fortpflanzten, verrieten Conway, daß Thornnastor erneut mit den Füßen aufstampfte.
„Entschuldigen Sie die Unterbrechungen“, sagte er zum Tralthaner. „Ich wollte gerade darauf hinweisen, daß eine vollständige Ruhigstellung ohne ernsthafte Schäden für den Patienten für die zum Abschluß der Operation erforderliche Zeitspanne durchaus möglich sein könnte. Bevor wir uns dieser Argumentation anschließen, müssen wir uns erst überlegen, was vor, während und nach einer umfangreicheren Operation an einer der Lebensformen geschieht, die im Gegensatz zum FSOJ regelmäßig und häufig in dem uns als Schlaf bekannten Zustand das Bewußtsein verlieren. In derartigen Fällen.“
„Die bekommen Beruhigungsmittel, um die Unruhe vor der Operation auf das Mindestmaß herabzusetzen, werden während des Eingriffs narkotisiert und danach unter Beobachtung gestellt, bis sich der Stoffwechsel und die Lebenszeichen stabilisiert haben“, unterbrach ihn Thornnastor, dessen Füße nach wie vor seine Ungeduld verrieten. „Das ist doch ganz einfach!“
„Das ist mir klar. Ich hoffe nur, die Lösung für unser Problem ist genauso einfach“, gab Conway zu bedenken. Er schwieg einen Moment lang, um seine Gedanken zu ordnen, und fuhr dann fort: „Sie werden mir zustimmen, daß ein Patient trotz Vollnarkose negativ auf den gerade stattfindenden chirurgischen Eingriff reagiert. Wäre er bei Bewußtsein, würde er mit unserem OP-Personal das machen wollen, worum sich der Beschützer bemüht, das heißt versuchen, es zu töten und oder vor der Bedrohung zu fliehen, die es für ihn darstellt. Selbst unter Narkose reagiert ein normaler Patient unterbewußt auf einen Zustand höchster Belastung. Sein Organismus ist mit der jeweiligen Entsprechung von Adrenalin vollgepumpt, die Blut-, Zucker- und Sauerstoffvorräte sind erhöht, und er ist zum Kampf oder zur Flucht bereit. Das ist ein Zustand, an dem sich unser Beschützer ständig erfreut, falls das überhaupt das richtige Wort dafür ist. Er kämpft oder flieht unaufhörlich, weil er permanenten Angriffen ausgesetzt ist.“