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Paulo Coelho

Der Zahir

O Maria ohne Sünden empfangen,

bete für uns, die wir uns an dich wenden.

Amen.

Welcher Mensch ist unter euch,

der hundert Schafe hat und,

wenn er eines von ihnen verliert,

nicht die neunundneunzig

in der Wüste läßt und geht dem

verlorenen nach, bis er’s findet?

Lukas 15:4

Ithaka

Wenn du deine Reise nach Ithaka antrittst, So hoffe, daß der Weg lang sei,

Reich an Entdeckungen und Erlebnissen.

Die Lästrygonen und die Zyklopen,

Den zornigen Poseidon, fürchte sie nicht; Solche findest du nie auf deinem Weg,

Wenn deine Gedanken erhaben bleiben,

wenn erlesene Gefühle

Deinen Geist und deinen Körper beherrschen.

Den Lästrygonen und den Zyklopen,

dem wilden Poseidon, ihnen wirst du nicht begegnen, Wenn du sie nicht in der Seele trägst,

Wenn deine Seele sie nicht vor dich stellt.

Hoffe, daß der Weg lang sei,

Voll Sommermorgen, wenn du,

Mit welchem Vergnügen, mit welcher Freude, In bisher unbekannte Häfen einfährst.

Unterbrich deine Fahrt in phönizischen Handelsplätzen, Und erwirb schöne Waren,

Perlmutt, Korallen, Bernstein und Ebenholz, Allerlei berauschende Essenzen,

Soviel du vermagst an berauschenden Essenzen.

Besuche viele ägyptische Städte,

Und lerne mehr und mehr von den Gelehrten.

Bewahre stets Ithaka in deinen Gedanken.

Dort anzukommen ist dein Ziel.

Aber beeile dich auf der Reise nicht.

Besser, daß sie lange dauert,

Daß du als alter Mann erst vor der Insel ankerst, Reich an allem, was du auf dem Weg erworben hast, Ohne die Erwartung, daß Ithaka dir Reichtum schenkt.

Ithaka hat dir eine schöne Reise beschert.

Ohne Ithaka wärest du nicht aufgebrochen.

Jetzt hat es dir nichts mehr zu geben.

Und auch wenn du es arm findest, hat Ithaka Dich nicht enttäuscht. Weise geworden,

mit solcher Erfahrung

Begreifst du ja bereits, was Ithakas bedeuten.

Konstantinos Kavafis (1863-1933)

Prolog

Im Wagen hatte ich gesagt, ich hätte den Schlußpunkt unter die erste Fassung meines Buches gesetzt. Als wir gemeinsam den Aufstieg auf einen der Berge der Pyrenäen begannen, der für uns heilig ist und auf dem wir schon außergewöhnliche Augenblicke erlebt hatten, fragte ich sie, ob sie wissen wolle, welches Thema im Mittelpunkt stehe und wie der Titel laute. Ihre Antwort war, sie habe schon lange überlegt, mich zu fragen, und nur aus Achtung vor meiner Arbeit nichts gesagt, sich aber für mich freue, sich sehr darüber freue.

Ich nannte ihr den Titel und das zentrale Thema. Wir wanderten schweigend. Auf dem Rückweg hörten wir ein Geräusch. Es war der Wind, der durch die kahlen Bäume fuhr und zu uns herunterwehte, den Berg wieder einmal seine Magie, seine Kraft zeigen ließ.

Dann fing es an zu schneien. Ich blieb stehen, ließ dieses Bild auf mich wirken: die fallenden Flocken, den grauen Himmel, den Wald und sie neben mir. Sie war immer an meiner Seite gewesen, die ganze Zeit.

Ich wollte es ihr damals sagen, schob es aber auf, damit sie es erführe, wenn sie zum ersten Male diese Seiten durchblättert. Dieses Buch ist dir gewidmet, Christina, meiner Frau.

Dem Schriftsteller Jorge Luis Borges zufolge entstammt die Vorstellung vom Zahir der islamischen Tradition und kam wahrscheinlich um das 18. Jahrhundert auf. Zahir bedeutet auf arabisch sichtbar, gegenwärtig, augenfällig. Eine Sache oder eine Person, welche, sind wir erst einmal in Kontakt mit ihr getreten, ganz allmählich unsere Gedanken ausfüllt, bis wir uns auf nichts anderes mehr konzentrieren können. Dies kann als Heiligkeit oder als Wahnsinn aufgefaßt werden.

Faubourg SaintPeres, Enzyklopädie des Phantastischen, 1953

Ich bin ein freier Mann

SIE: Esther, Kriegskorrespondentin, kürzlich aus dem Irak zurückgekehrt, weil die Invasion des Landes kurz bevorstand, 30, verheiratet, kinderlos.

ER: ein unbekannter Mann, ca. 2325, brünett, mit mongolischen Zügen.

Beide wurden zuletzt in einem Cafe am Faubourg SaintHonore gesehen.

Die Polizei erfuhr, daß sich beide schon vorher getroffen hatten, niemand konnte sagen, wie oft: Esther hatte immer gesagt, der Mann, dessen Identität sich hinter dem Namen Mikhail verbarg, sei sehr wichtig, wobei sie allerdings nie erklärt hatte, ob wichtig für sie als Journalistin oder für sie als Frau. Die Polizei leitete offizielle Ermittlungen ein. Geiselnahme, Erpressung, Geiselnahme mit Todesfolge wurden erwogen − was nicht vollkommen aus der Luft gegriffen war, da Esther durch ihre Arbeit häufiger Kontakt mit Personen hatte, die mit Terrorzellen in Verbindung standen. Es stellte sich heraus, daß Esther vor ihrem Verschwinden regelmäßig Geld von ihrem Bankkonto abgehoben hatte: Die Ermittler waren der Meinung, dies könne mit der Zahlung für Informationen zusammenhängen. Sie hatte keine Kleidung mitgenommen, aber seltsamerweise wurde ihr Reisepaß nicht gefunden.

ER: sehr jung und unbekannt, ohne Einträge ins Polizeiregister, ohne besondere Merkmale, die seine Identifizierung ermöglichten.

SIE: Esther, zwei internationale Journalistenpreise, 30, verheiratet.

MEINE FRAU.

Ich werde sofort verdächtigt und verhaftet − zumal ich mich weigere zu sagen, wo ich am Tag ihres Verschwindens war. Mein Gefängniswärter hat gerade die Tür aufgeschlossen und mir gesagt, ich sei ein freier Mann.

Warum bin ich ein freier Mann? Weil man heute über jeden alles weiß, man braucht nur eine Information haben zu wollen, und schon ist sie da: wo die Kreditkarte benutzt wurde, welche Orte wir aufsuchen, mit wem wir schlafen.

In meinem Fall war es einfacher: Eine Frau erbot sich, zu meinen Gunsten auszusagen. Eine Freundin meiner Frau, ebenfalls Journalistin, geschieden; daher hatte sie kein Problem damit, zu sagen, daß sie mit mir schlief. Sie lieferte konkrete Beweise dafür, daß ich am Tag und in der Nacht von Esthers Verschwinden mit ihr zusammengewesen war.

Ich gehe zum Chefinspektor, um mit ihm zu reden. Er gibt mir meine Sachen zurück, entschuldigt sich, sagt, meine schnelle Festnahme sei gesetzeskonform und ich könne den Staat weder anklagen noch einen Prozeß gegen ihn anstrengen.

Ich erkläre, das hätte ich auch keineswegs im Sinn und wisse im übrigen, daß jeder ständig unter Verdacht stehe und rund um die Uhr überwacht werde, auch wenn er kein Verbrechen begangen habe.

»Sie sind frei«, sagt er und wiederholt damit die Worte des Wärters.

Ich frage: ob es nicht doch möglich sei, daß meiner Frau etwas passiert sei? Sie habe vermutet, daß sie wegen ihrer Kontakte zur Unterwelt des Terrorismus beschattet werden würde.

Der Inspektor weicht aus. Ich lasse nicht locker, aber er schweigt.

Meine Frage, ob sie mit ihrem Paß reisen könne, bejaht er, sie habe ja kein Verbrechen begangen, warum solle sie dann nicht ungehindert aus und einreisen können?

»Ist es denkbar, daß sie Frankreich verlassen hat?«

»Glauben Sie denn, Sie wurden wegen der jungen Frau verlassen, mit der Sie schlafen?«

Das gehe ihn nichts an, antworte ich. Der Inspektor hält kurz inne, wird ernst, sagt, ich sei festgenommen worden, weil das routinemäßig so gemacht werde. Aber ihm tue das Verschwinden meiner Frau sehr leid. Auch er sei verheiratet und, obwohl ihm meine Bücher nicht gefielen (also weiß er, wer ich bin! Er ist nicht so unwissend, wie er tut!), könne er sich in meine Lage versetzen, sich vorstellen, was ich durchmache.