Hätte ich sie zwischen mir und ihrer Idee, Kriegskorrespondentin zu werden, wählen lassen, hätte ich alles verraten, was Esther für mich getan hatte. Auch wenn mich ihre Idee nicht überzeugte, hinter den falsch erzählten Geschichten nach der wahren Geschichte zu suchen, war ich doch zu dem Schluß gekommen, daß Esther ein bißchen Freiheit brauchte, daß sie weggehen und starke Gefühle erleben mußte. Was konnte daran falsch sein?
Ich akzeptierte ihren Wunsch, machte allerdings zuvor deutlich, daß sie einen großen Betrag bei der ›Gefälligkeitsbank‹ abhebe (wie lächerlich, wenn ich es mir recht überlege!). Zwei Jahre lang hatte Esther die unterschiedlichsten Konflikte aus der Ferne verfolgt, hatte die Kontinente oft häufiger gewechselt als ihre Schuhe. Immer, wenn sie zurückkam, glaubte ich, sie würde aufgeben, sie könne doch unmöglich lange an einem Ort leben, an dem es kein ordentliches Essen, kein tägliches Bad, kein Kino oder Theater gab. Jedesmal fragte ich sie, ob sie schon eine Antwort auf Hans’ Frage habe, und immer sagte sie, sie sei auf dem richtigen Weg − ich müsse mich nur noch ein wenig gedulden. Manchmal verbrachte sie mehrere Monate am Stück im Ausland. Im Gegensatz zu dem, was die offizielle Geschichte der Ehe‹ besagte (ich übernehme bereits Esthers Worte), ließ die Entfernung unsere Liebe wachsen, sie zeigte uns, wie viel wir einander bedeuteten. Unsere Beziehung, die ich schon bei meinem Umzug nach Paris als ideal empfunden hatte, wurde immer noch besser.
Wenn ich es richtig verstanden habe, lernte sie Mikhail kennen, als sie einen Dolmetscher brauchte, der sie ein paar Tage in irgendeinem Land in Zentralasien begleiten sollte.
Anfangs erzählte sie mir voller Begeisterung von ihm − ein sensibler Mensch, der die Welt so sah, wie sie in Wirklichkeit war, und nicht so, wie man uns beigebracht hatte, sie zu sehen. Er war fünf Jahre jünger als sie, aber sehr erfahren in dem, was Esther als ›Magie‹ bezeichnete. Ich hörte geduldig und höflich zu, als interessierten mich dieser junge Mann und seine Ideen sehr. Tatsächlich aber war ich mit meinen Gedanken weit weg, ging im Kopf die Dinge durch, die noch zu tun waren, überlegte, was ich schreiben könnte, legte mir Antworten auf Fragen von Journalisten und Verlegern zurecht, sann darüber nach, wie ich eine bestimmte Frau verführen könnte, die an mir interessiert zu sein schien, plante die nächste Lesereise für mein Buch.
Ob sie es bemerkt hat, weiß ich nicht. Ich aber habe nicht bemerkt, daß Mikhail allmählich ganz aus unseren Unterhaltungen verschwand. Ihr Verhalten wurde immer radikaler. Selbst wenn sie in Paris war, verbrachte sie mehrere Abende pro Woche außer Haus, immer unter dem Vorwand, sie arbeite an einer Reportage über Bettler.
Ich glaubte aber, sie habe eine Affäre. Litt eine Woche lang und fragte mich: Soll ich meinen Verdacht äußern oder so tun, als sei nichts? Ich entschied mich fürs Ignorieren − nach dem Prinzip »Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß«. Nichts lag mir ferner als der Gedanke, sie könnte mich verlassen − sie hatte so viel getan, um mir zu helfen, der zu sein, der ich geworden war, da wäre es doch unsinnig gewesen, dies alles für eine Affäre aufzugeben.
Hätte ich mich wirklich für Esthers Welt interessiert, hätte ich zumindest einmal fragen müssen, was mit ihrem Dolmetscher und seiner »magischen« Sensibilität los sei. Ihr Schweigen und das Fehlen neuer Informationen hätten mich stutzig machen müssen. Ich hätte sie bitten sollen, sie wenigstens einmal bei diesen »Recherchen« über die Bettler begleiten zu dürfen.
Wenn sie hin und wieder nachfragte, ob ich an ihrer Arbeit interessiert sei, war meine Antwort immer dieselbe:
»Sie interessiert mich, ich möchte mich aber nicht einmischen, ich möchte, daß du frei bist und deinem Traum folgst, den du gewählt hast, so wie du mir geholfen hast.«
Was selbstverständlich nichts als pures Desinteresse war.
Aber da die Menschen immer das glauben, was sie glauben wollen, war Esther mit meiner Bemerkung zufrieden.
Der Satz des Inspektors bei meiner Entlassung aus dem Gefängnis kam mir wieder in den Sinn: Sie sind frei. Was ist Freiheit? Ist das Freiheit, wenn dein Mann sich kein bißchen dafür interessiert, was du tust? Ist es Freiheit, wenn du dich allein fühlst und niemanden hast, mit dem du deine innersten Gefühle teilen kannst − da sogar der Ehemann nur seine Arbeit im Blick hat und seine ach so wichtige, großartige und beschwerliche Karriere?
Ich blicke wieder zum Eiffelturm hinüber: Eine weitere Stunde ist vergangen, denn er glitzert wieder, als wäre er aus Diamanten. Ich weiß nicht, wie oft das schon passiert ist, seit ich hier am Fenster stehe.
Mir ist jetzt klar, daß ich im Namen der Freiheit in unserer Ehe übersehen habe, daß Mikhail aus den Gesprächen meiner Frau verschwunden war.
Derselbe Mikhail, der dann in einer Bar wieder auftauchte, um erneut zu verschwinden, diesmal allerdings mit Esther, und der den berühmten, erfolgreichen Schriftsteller als möglichen Tatverdächtigen eines Verbrechens zurückließ.
Oder, noch schlimmer, als verlassenen Ehemann.
Die Frage, die Hans gestellt hat
In Buenos Aires ist der Zahir eine gewöhnliche Münze im Wert von zwanzig Centavos; die Buchstaben NT und die Ziffer 2 sind hineingekerbt wie von einer Rasierklinge oder einem Taschenmesser; auf der Rückseite findet sich die Jahreszahl 1929. In Gujarat, gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts, war der Zahir ein Tiger; in Java ein Blinder aus der Moschee von Surakarta, den die Gläubigen steinigten; in Persien ein Astrolabium, das Naidr Shah auf den Meeresgrund versenken ließ; in den Verliesen des Mahdi, um 1892, war er ein kleiner Kompaß, der in einer Turbanfalte steckte und den Rudolf Carl von Slatin angefaßt hatte ...
Ein Jahr später fällt mir beim Aufwachen die Geschichte von Jorge Luis Borges ein: Der Zahir − etwas, was man, hat man es einmal berührt oder gesehen, nie wieder vergißt und was unser ganzes Denken bis zum Wahnsinn besetzt. Mein Zahir sind keine romantischen Metaphern mit Blinden, Kompassen, Tigern oder mit jener Münze.
Mein Zahir hat einen Namen, und sein Name ist Esther.
Gleich nach meiner Verhaftung erschien ich in verschiedenen Skandalblättern auf der Titelseite. Die Artikel begannen mit der Behauptung, es habe womöglich ein Verbrechen gegeben, schlössen indes (damit ich die Blätter gerichtlich nicht belangen konnte) stets mit einer anderen »Behauptung«, nämlich, ich sei für unschuldig erklärt worden. (Für unschuldig erklärt? Es hatte nicht einmal eine Anklage gegeben.) Die Blätter ließen eine Woche verstreichen, prüften, ob sich die Ausgabe gut verkaufte (ja, das tat sie, ich war ein über jeden Zweifel erhabener Schriftsteller, und jeder wollte wissen, ob ein Mann, der über Spiritualität schrieb, auch eine dunkle Seite hatte). Dann gingen sie erneut zum Angriff über, behaupteten, meine Frau sei wegen meiner notorischen Seitensprünge aus dem Haus geflüchtet: Eine deutsche Zeitschrift ging sogar so weit, anzudeuten, ich hätte eine Beziehung mit einer zwanzig Jahre jüngeren Sängerin, die erzählte, sie habe mich in Oslo getroffen (was stimmte, aber das Treffen hatte es wegen der ›Gefälligkeitsbank‹ gegeben, ein Freund hatte mich darum gebeten und war während des einzigen gemeinsamen Abendessens die ganze Zeit dabeigewesen). Die Sängerin sagte, es gebe nichts zwischen uns (wenn es nichts gab, warum zierte unser Foto dann das Titelblatt?), und nutzte die Gelegenheit, um ihre neue CD anzukündigen: Sie hatte mich und die Zeitschrift dazu benutzt, ihr neues Album zu lancieren, und ich weiß bis heute nicht, ob dessen Flop nicht letztlich auf diese billige Masche zurückzuführen ist (das Album war gar nicht schlecht).
Der Skandal um den berühmten Schriftsteller war bald nicht mehr interessant: In Europa, vor allem in Frankreich, ist Fremdgehen nicht nur akzeptiert, sondern wird sogar heimlich bewundert. Zudem liest die vornehmlich weibliche Leserschaft dieser Blätter nicht gern, was ihr selbst passieren könnte.