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Aber Esther war verschwunden. Hatte Spuren hinterlassen, die nur für mich sichtbar waren wie eine geheime Botschaft: Ich bin dabei, wegzugehen.

Warum?

Lohnt es wirklich, eine Antwort auf diese Frage zu geben?

Nein. Denn hinter jeder Antwort würde meine eigene Unfähigkeit aufscheinen, die Frau, die ich liebe, an meiner Seite zu halten. Lohnt es, sie zu suchen, um sie davon zu überzeugen, zu mir zurückzukehren? Um eine weitere Chance für unsere Ehe zu flehen, zu betteln?

Das erscheint mir lächerlich. Lieber leide ich, wie ich schon zuvor gelitten habe, als mich andere Menschen, die ich liebte, verlassen haben. Lieber lecke ich meine Wunden, wie ich es bereits in der Vergangenheit getan habe. Ich werde eine Zeitlang an sie denken, zu einem bitteren Menschen werden, meine Freunde damit nerven, daß ich kein anderes Thema mehr habe als das Weggehen meiner Frau. Ich werde das Geschehene zu rechtfertigen versuchen, werde mir Tag und Nacht jeden Moment, den ich an ihrer Seite verbracht habe, vor Augen halten und zum Schluß kommen, daß sie hart zu mir war, zu mir, der ich immer versucht habe, mich zu bessern, es besser zu machen. Wenn ich durch die Straßen gehe, werde ich ständig Frauen begegnen, die sie sein könnten. Tag und Nacht, Nacht und Tag leiden. Das kann Wochen, Monate, vielleicht sogar mehr als ein Jahr dauern.

Bis ich eines Morgens aufwache, feststelle, daß ich an etwas anderes denke, und begreife, daß das Schlimmste nun vorbei ist. Das Herz ist verletzt, aber es ist dabei, sich zu erholen, und sieht wieder, daß das Leben schön ist. Das ist schon früher passiert, das wird wieder passieren, da bin ich mir sicher. Wenn jemand geht, heißt das, jemand anderes wird kommen − und ich werde eine neue Liebe finden.

Einen Augenblick lang genieße ich meine neue Lage: frei und ungebunden zu sein und noch dazu reich. Ich kann ausgehen, mit wem ich will, am hellichten Tage. Ich kann mich bei Partys aufführen, wie ich es in allen Ehejahren nicht getan habe. Die Nachricht wird sich rasch verbreiten, und bald werden viele Frauen an meine Tür klopfen, junge und nicht mehr so junge, reiche und solche, die weniger reich sind, als sie zu sein vorgeben, intelligente und solche, die nur dazu erzogen wurden, zu sagen, was ich vermeintlich hören möchte.

Ich möchte glauben, daß es großartig ist, frei zu sein.

Wieder frei. Bereit, die wahre Liebe meines Lebens zu finden, diejenige, die auf mich wartet und die mich niemals eine so erniedrigende Situation erleben lassen wird.

Ich trinke meine Schokolade aus, schaue auf die Uhr, weiß, daß es noch zu früh ist, dieses angenehme Gefühl zu haben, wieder Teil der Menschheit zu sein. Ein paar Minuten lang träume ich davon, daß Esther durch diese Tür hereinkommt, über die schönen Perserteppiche geht und sich wortlos neben mich setzt, daß sie eine Zigarette raucht, in den begrünten Innenhof blickt und meine Hand hält. Eine halbe Stunde verstreicht, eine halbe Stunde lang glaube ich die Geschichte, die ich mir gerade ausgedacht habe, bis ich begreife, daß es sich nur um ein weiteres Hirngespinst handelt.

Ich beschließe, nicht nach Hause zu gehen. Begebe mich zum Empfang, bitte um ein Zimmer, eine Zahnbürste, ein Deodorant. Das Hotel ist ausgebucht, aber der Geschäftsführer macht es möglich: Ich bekomme eine wunderschöne Suite mit Balkon und Blick auf den Eiffelturm, auf die Dächer von Paris, die Lichter, die ganz allmählich angehen, auf die Familien, die sich an diesem Sonntag zum Abendessen zusammenfinden. Und das Gefühl, das ich zuvor auf den ChampsElysees hatte, überkommt mich wieder: Je schöner alles um mich herum ist, desto elender fühle ich mich.

Kein Fernsehen. Kein Abendessen. Ich setze mich auf die Terrasse und blicke auf mein Leben zurück: ein junger Mann, der davon träumt, ein berühmter Schriftsteller zu werden, und plötzlich sieht, daß die Wirklichkeit vollkommen anders ist. Er schreibt in einer Sprache, die außerhalb seines Landes kaum jemand lesen kann, in einem Land, von dem es heißt, es gebe dort keine Leser. Seine Familie zwingt ihn zu studieren (egal was, mein Sohn, Hauptsache, du bekommst ein Diplom − denn sonst bringst du es im Leben zu nichts). Er lehnt sich auf, reist als Hippie durch die Welt, trifft schließlich einen Sänger, schreibt ein paar Songtexte und verdient plötzlich mehr Geld als seine Schwester, die auf die Eltern gehört hat und Chemieingenieurin wurde.

Ich schreibe noch mehr Songtexte, der Sänger hat immer mehr Erfolg, ich kaufe ein paar Wohnungen, verkrache mich mit dem Sänger, habe aber genug Kapital, um die nächsten Jahre zu leben, ohne arbeiten zu müssen. Ich heirate meine erste Frau. Sie ist älter als ich, ich lerne viel von ihr − Liebe machen, Auto fahren, Englisch, lange schlafen −, aber dann trennen wir uns doch, weil ich, wie sie meint, »emotional unreif, hinter jedem Mädchen mit großen Brüsten her« sei. Ich heirate ein zweites und ein drittes Mal, Frauen, von denen ich glaube, sie könnten mir innere Stabilität geben: Ich bekomme, was ich möchte, finde aber heraus, daß die erträumte Stabilität mit einer tiefen Langeweile einhergeht.

Noch zwei Scheidungen. Erneut die Freiheit, aber das ist nur ein Gefühl; Freiheit ist nicht das Fehlen von Verpflichtungen, sondern die Fähigkeit, zu wählen − und mich auf das einzulassen, wovon ich glaube, daß es das Beste für mich ist.

Ich setze meine Liebessuche fort, schreibe weiter Songtexte. Wenn ich gefragt werde, was ich beruflich mache, sage ich, ich sei Schriftsteller. Wenn die Leute dann sagen, sie würden nur meine Songtexte kennen, gebe ich zur Antwort, dies sei nur ein Teil meiner Arbeit. Wenn sie sich entschuldigen und sagen, sie hätten noch nie ein Buch von mir gelesen, erkläre ich ihnen, ich arbeite gerade an einem Projekt − was gelogen ist. Tatsächlich habe ich Geld, Kontakte, nur fehlt mir der Mut, ein Buch zu schreiben − mein Traum ist möglich geworden. Wenn ich es versuche und scheitere, weiß ich nicht, wie der Rest meines Lebens aussehen wird: Daher ist es besser, weiter zu träumen, als der Möglichkeit ins Auge zu sehen, der Traum könnte fehlschlagen.

Eines Tages kommt eine Journalistin, um mich zu interviewen: Sie möchte wissen, wie man sich fühlt, wenn die eigene Arbeit im ganzen Land bekannt ist, aber niemand weiß, wer man ist, da normalerweise nur der Sänger in den Medien erscheint. Sie ist hübsch, intelligent und redet kein Wort zuviel. Wir begegnen uns auf einem Fest wieder, jetzt ohne Arbeitsdruck, es gelingt mir, noch in derselben Nacht mit ihr ins Bett zu gehen. Ich verliebe mich, sie findet, es sei nicht besonders aufregend gewesen. Ich rufe sie an, sie sagt immer, sie habe zu tun. Je mehr sie mich abweist, um so mehr interessiert sie mich − bis ich sie überreden kann, ein Wochenende mit mir in meinem Landhaus zu verbringen.

(Ich bin zwar das schwarze Schaf, andererseits aber auch der einzige, der sich damals ein Landhaus leisten kann − manchmal lohnt es sich eben, aufzubegehren.) Drei Tage lang sind wir ganz allein, betrachten das Meer, ich koche für sie, sie erzählt Geschichten von ihrer Arbeit, und am Ende verliebt sie sich in mich. Wir kehren in die Stadt zurück, sie schläft regelmäßig in meiner Wohnung.

Eines Morgens geht sie früher aus dem Haus und kehrt mit ihrer Schreibmaschine zurück: Von diesem Tag an wird meine Wohnung, ohne daß ein Wort darüber verloren wurde, zu ihrem Zuhause.

Die gleichen Konflikte, die ich mit meinen vorigen Frauen hatte, beginnen: Sie sind immer auf der Suche nach Stabilität, nach Treue, und ich auf der Suche nach Abenteuern und dem Unbekannten. Diesmal hält die Beziehung aber länger. Trotzdem denke ich zwei Jahre später, daß für Esther der Augenblick gekommen ist, ihre Schreibmaschine und alles, was sie sonst noch angeschleppt hatte, wieder mitzunehmen.

»Ich glaube, es wird nicht gehen.«

»Aber du liebst mich doch, und ich liebe dich, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht. Wenn du mich fragst, ob ich dich gern um mich habe, so ist die Antwort ja. Wenn du allerdings von mir wissen willst, ob ich ohne dich leben kann, dann ist die Antwort ebenfalls ja.«