Ausgerechnet ich, der ich immer so stolz auf meinen Mut war, muß erkennen, wie feige, bequem ich bin, wie kleinherzig ich mit meinem eigenen Leben umgehe. An diesem Morgen wecke ich Esther mit einem Kuß und sage, ich würde tun, was sie vorschlägt.
Ich breche auf, lege den Jakobsweg in achtunddreißig Tagen zurück. Als ich in Santiago de Compostela ankomme, begreife ich, daß die Arbeit erst jetzt beginnt. Ich beschließe, in Madrid zu wohnen, ein Ozean soll zwischen Esther und mir liegen, obwohl wir offiziell weiter zusammen sind und häufig miteinander telefonieren. Es ist sehr bequem für mich, weiter verheiratet zu sein, zu wissen, daß ich jederzeit in ihre Arme zurückkehren und zugleich alle Unabhängigkeit der Welt genießen kann.
Ich verliebe mich in eine katalanische Wissenschaftlerin, eine Argentinierin, die Schmuck macht, ein Mädchen, das in der Metro singt. Von meinen Tantiemen kann ich bequem leben, ich muß nicht arbeiten, habe jede Menge freie Zeit für alles − auch dafür, ein Buch zu schreiben.
Das Buch kann immer bis zum nächsten Tag warten, denn der Bürgermeister von Madrid hat beschlossen, die Stadt in einen einzigen Festplatz zu verwandeln, und einen Slogan geschaffen: »Madrid macht mich an.« Man solle jede Nacht gleich mehrere Bars besuchen, und das Ganze nennt sich movida madrilena − Madrid in Bewegung. Das kann ich nicht auf morgen verschieben, das macht Spaß, die Tage sind kurz, die Nächte lang.
Eines schönen Tages kommt ein Anruf von Esther, mit dem sie ihren Besuch ankündigt: Sie findet, wir müßten unsere Situation ein für allemal klären. Sie hat einen Flug für die nächste Woche gebucht, und das gibt mir Zeit, mich bei der blonden Straßensängerin, die inzwischen bei mir im ApartHotel schläft und jede Nacht mit mir durch Madrid zieht, herauszureden: Ich wolle nach Portugal, komme aber in einem Monat wieder. Ich räume das Apartment auf, tilge jede Spur weiblicher Präsenz, bitte meine Freunde um vollständiges Stillschweigen, meine Frau sei im Anflug und werde einen Monat hierbleiben.
Als Esther aus dem Flugzeug steigt, erkenne ich sie kaum wieder. Sie hat eine scheußliche Frisur. Ich sage es ihr, sie geht zum Friseur und sieht danach wieder hübsch aus. Wir reisen durch Spanien, lernen kleine Städte kennen, die uns eine Nacht lang viel bedeuten, die ich aber heute nicht mehr auf Anhieb finden würde. Wir schauen uns Stierkämpfe an, Flamenco, ich bin der beste Ehemann der Welt, denn ich möchte, daß Esther mit dem Gefühl wegfliegt, daß ich sie immer noch liebe. Ich weiß nicht, warum ich ihr dieses Gefühl vermitteln will, vielleicht weil ich im Grunde glaube, daß der Traum von Madrid eines Tages enden wird.
Nur noch zehn Tage bis zum Ende ihres Urlaubs: Ich möchte, daß sie befriedigt wieder abreist und mich allein in Madrid zurückläßt, das »mich anmacht« mit seinen Diskotheken, die um zehn Uhr morgens öffnen, mit seinen Corridas und den endlosen Gesprächen über die ewig gleichen Themen: Alkohol, Frauen, noch mehr Corridas, noch mehr Alkohol, noch mehr Frauen, und keinen, absolut keinen festen Zeiten.
Eines Sonntags auf dem Weg zu einer Imbißbude, die die ganze Nacht geöffnet hat, stellt sie mir eine Frage zum Tabuthema: dem Buch, von dem ich behauptet habe, ich sei dabei, es zu schreiben. Ich leere eine ganze Flasche Sherry, traktiere die Rollgitter mit Fußtritten, pöble Leute auf der Straße an, fahre meine Frau an, wieso sie eine so weite Reise gemacht habe, nur um mir das Leben zur Hölle zu machen, mir die Freude zu vergällen. Sie sagt nichts − aber wir beide wissen, daß unsere Beziehung an ihren Grenzen angelangt ist. Ich verbringe eine traumlose Nacht, und am nächsten Morgen beschwere ich mich erst mal bei dem Geschäftsführer darüber, daß das Telefon nicht ordentlich funktioniert, erkläre dem Zimmermädchen, sie habe seit einer Woche die Bettwäsche nicht gewechselt, nehme ein endloses Vollbad, um den Kater vom Vorabend auszukurieren, und dann erst setze ich mich an die Schreibmaschine − nur um Esther zu zeigen, daß ich es versuche, daß ich ehrlich versuche zu arbeiten.
Und da geschieht plötzlich ein Wunder: Als ich die Frau anschaue, die vor mir sitzt, die gerade einen Kaffee gekocht hat und die Zeitung liest, die Frau, in deren Augen Müdigkeit und Verzweiflung liegen, die Frau, die dort in ihrer stillen Art sitzt, die ihre Zärtlichkeit nicht immer durch Gesten zeigt... diese Frau, die mich hat ja sagen lassen, als ich nein sagen wollte, mich gezwungen hat, um das zu kämpfen, was sie − zu Recht − für den Sinn meines Lebens hielt, die auf meine Anwesenheit verzichtet hat, weil ihre Liebe zu mir größer war als ihre Liebe zu sich selbst, die mich auf die Reise geschickt hat, meinen Traum zu suchen... − Als ich diese Frau sah, die fast noch ein Mädchen ist, die nie viele Worte macht, mit ihren beredten Blicken, diese Frau, die häufig im Herzen ängstlich, aber in ihren Taten immer mutig ist, imstande, zu lieben, ohne sich zu erniedrigen, ohne sich dafür zu entschuldigen, daß sie um ihren Mann kämpft − da plötzlich hämmern meine Finger auf die Tasten der Schreibmaschine.
Der erste Satz ist da. Und dann der zweite.
Und dann verbringe ich zwei Tage, ohne etwas zu essen, schlafe nur soviel wie unbedingt notwendig, die Worte scheinen aus einer ungekannten Quelle hervorzusprudeln − wie früher vielleicht auch meine Songtexte, wenn mein Partner und ich nach vielen Streitereien und sinnlosen Gesprächen wußten, daß ›es‹ da war, reif war und die Zeit gekommen, ›es‹ niederzuschreiben und in Noten umzusetzen.
Diesmal weiß ich, daß »es« aus Esthers Herzen kommt, meine Liebe wird wiedergeboren, ich schreibe das Buch, weil es sie gibt. Sie hat die schwierige Zeit überwunden, ohne zu klagen, ohne sich als Opfer zu fühlen. Ich beginne, von meiner einzigen Erfahrung zu erzählen, die mich in den letzten Jahren wirklich berührt hat − vom Jakobsweg.
Während des Schreibens merke ich, daß meine Sicht der Welt sich entscheidend ändert. Viele Jahre lang hatte ich Magie, Alchemie und okkulte Wissenschaften studiert und praktiziert. Ich war von dem Gedanken fasziniert, daß eine Gruppe von Menschen eine ungeheure Macht besaß, die auf gar keinen Fall mit dem Rest der Menschheit geteilt werden durfte, weil es höchst riskant wäre, dieses riesige Potential in unerfahrene Hände gelangen zu lassen. Ich hatte in Geheimgesellschaften mitgemacht, war in exotische Sekten verwickelt gewesen, hatte sündhaft teure, auf dem Markt nicht erhältliche Bücher gekauft, wahnsinnig viel Zeit mit Ritualen und Initiationen verbracht. Andauernd war ich in irgendwelche Gruppen und Bruderschaften ein und wieder ausgetreten, in der fieberhaften Hoffnung, jemanden zu treffen, der mir endlich die Mysterien der nichtsichtbaren Welt enthüllen würde. Und ich war jedesmal wieder enttäuscht, wenn ich herausfand, daß die meisten dieser Menschen − sosehr sie auch von guten Absichten geleitet waren − nur blind einem Dogma folgten und häufig zu Fanatikern wurden, weil Fanatismus der einzige Ausweg aus den Zweifeln ist, die die Seele des Menschen unaufhörlich quälen.
Ich hatte herausgefunden, daß viele der Rituale tatsächlich funktionierten. Aber ich hatte auch herausgefunden, daß diese selbsternannten Meister, die behaupteten, um die Geheimnisse des Lebens zu wissen, Techniken zu kennen, die jedem Menschen die Fähigkeit verleihen, alles zu erreichen, was er will, die Verbindung zu den Lehren der Alten bereits verloren hatten. Auf dem Jakobsweg zu gehen, mit ganz gewöhnlichen Menschen zusammenzukommen und zu entdecken, daß das Universum eine eigene Sprache spricht (die Sprache der Zeichen) und wir, um sie zu verstehen, nur mit wachem Geist das anzuschauen brauchen, was um uns herum geschieht − all das hat mich daran zweifeln lassen, daß der Okkultismus wirklich das einzige Tor zu diesen Mysterien ist. In meinem Buch über den Jakobsweg beginne ich nun, über andere Möglichkeiten des Wachsens nachzudenken, und komme zu dem Schluß: »Es reicht, aufmerksam zu sein; die Lektionen kommen immer dann, wenn du bereit bist und offen für die Zeichen, und sie lehren dich alles, was du für den nächsten Schritt brauchst.«