»Ich verstehe nicht recht, wieso meine Frau etwas lernen sollte. Ihr Großvater hatte doch gesagt, wir sollten alles vergessen.«
»Morgen zeige ich es Ihnen«, sagte Dos.
Und das tat er, und es bedurfte keiner Worte. Ich sah die endlose Steppe, die wie eine Wüste wirkte, aber deren kärgliche Vegetation voller Leben war. Ich hörte das Geräusch der Hufe unserer Pferde, den leisen Wind und sah den flachen Horizont, den riesigen leeren Raum. Es war, als hätte die Welt diesen Raum gewählt, um ihre Größe, ihre Einfachheit, aber auch ihre Komplexität zu zeigen. Als könnten und müßten wir wie die Steppe sein − unendlich, leer und zugleich voller Leben.
Ich blickte in den blauen Himmel, nahm meine Sonnenbrille ab, ließ mich von dem Licht erfüllen, von dem Gefühl, daß ich nirgendwo und überall war. Wir ritten schweigend, hielten nur, um die Tiere an Bächen zu tränken, die nur jemand finden konnte, der sich auskannte. Hin und wieder tauchten andere Reiter in der Ferne auf, Hirten mit ihren Herden, eingerahmt von der Ebene und dem Himmel.
Wohin ging ich? Ich hatte nicht die geringste Vorstellung, und es war mir gleichgültig. Die Frau, die ich suchte, befand sich in dieser unendlichen Weite, ich konnte ihre Seele berühren, die Melodie hören, die sie beim Teppichweben sang. Jetzt begriff ich, warum sie diesen Ort gewählt hatte.
Nichts, absolut gar nichts, konnte in dieser Leere, die sie so sehr gesucht hatte, ihre Aufmerksamkeit ablenken, und der Wind würde ganz allmählich ihren Schmerz wegwehen. Ob sie sich vorstellen konnte, daß ich eines Tages zu Pferd hierher unterwegs sein würde, auf dem Weg zu ihr?
Da senkte sich vom Himmel herab das Gefühl in meine Seele, im Paradies zu sein. Mir war bewußt, daß ich einen unvergeßlichen Augenblick erlebte − einen Bewußtseinszustand, den wir oftmals erreichen, wenn ein magischer Augenblick soeben vorbei ist. Ich war ganz dort, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, ganz auf diesen Morgen konzentriert, auf das rhythmische Klappern der Pferdehufe, auf das sanfte Wehen des Windes, der meinen Körper liebkoste, auf die unerwartete Gnade, den Himmel, die Erde und die Menschen betrachten zu dürfen. Ich geriet in eine Art Verzückung, war von Ehrfurcht und Dankbarkeit erfüllt, am Leben zu sein. Ich betete leise, lauschte der Stimme der Natur und begriff, daß die unsichtbare Welt sich immer in der sichtbaren Welt offenbart.
Ich stellte dem Himmel Fragen, dieselben Fragen, die ich immer als Kind meiner Mutter gestellt hatte: Warum lieben wir bestimmte Menschen und hassen wir andere?
Wohin gehen wir nach dem Tod?
Warum werden wir geboren, wenn wir am Ende doch sterben?
Was bedeutet Gott?
Die Steppe antwortete mir mit dem unaufhörlichen Wehen des Windes. Und das genügte mir − das Wissen, daß die grundlegenden Fragen im Leben nie eine Antwort erfahren werden und wir dennoch weitermachen können.
Als Berge am Horizont auftauchten, bat uns Dos stehenzubleiben. Ich bemerkte einen Bach neben uns.
»Hier werden wir kampieren.«
Wir hievten die Rucksäcke von den Pferden und bauten das Zelt auf. Mikhail begann ein Loch in den Boden zu graben.
»So machen es die Nomaden: Sie graben ein Loch, füllen den Boden mit Steinen aus, legen Steine um das Loch herum und haben dann einen Platz, an dem sie ein Feuer anzünden können, ohne daß der Wind sie stört.«
Im Süden erschien zwischen den Bergen und uns eine Staubwolke, die, wie ich gleich begriff, von galoppierenden Pferden aufgewirbelt worden war. Ich teilte meinen beiden Gefährten meine Beobachtung mit, und sie sprangen beide merklich angespannt auf. Doch dann sagten sie etwas auf russisch zueinander und entspannten sich wieder. Dos machte sich weiter daran, das Zelt aufzubauen, während Mikhail das Feuer anzündete.
»Können Sie mir erklären, was los ist?«
»Es sieht zwar um uns herum alles leer aus − aber auch Sie haben doch die Hirten, die Schildkröten, Füchse und Reiter gesehen. Womöglich haben Sie das Gefühl, alles um sich herum wahrzunehmen − aber können Sie sagen, woher diese Reiter plötzlich auftauchen? Wo sich ihre Häuser befinden, ihre Herden?
Die Vorstellung von Leere ist eine Illusion: Wir beobachten ständig und werden ständig beobachtet. Ein Fremder, der die Zeichen der Steppe nicht lesen kann, hat das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Er sieht nur die Pferde und die Reiter.
Wir, die wir hier aufgewachsen sind, können die Jurten sehen, runde Häuser, die in der Landschaft aufgehen. Wir können die Zeichen lesen, erkennen, was geschieht, wir beobachten, wie die Reiter sich bewegen, welche Richtung sie einschlagen. Früher hing das Überleben eines Stammes von dieser Fähigkeit ab − denn immer wieder kamen Feinde, Invasoren, Schmuggler.
Und jetzt die schlechte Nachricht: Sie haben herausgefunden, daß wir auf dem Weg zu dem Dorf am Fuß jener Berge sind, und sie entsenden Reiter, um den Zauberer zu töten, dem ein Mädchen erscheint, und den Mann, der den Frieden der fremden Frau stören kommt.«
Er lachte.
»Warten Sie’s ab, Sie werden es bald verstehen.«
Die Reiter kamen näher. Kurz darauf konnte man schon erkennen, was sich abspielte.
»Was ist das denn? Da wird ja eine Frau von einem Mann verfolgt.«
»Für Sie mag es seltsam aussehen, aber es ist Teil unserer Tradition.«
Die Frau ritt mit einer langen Peitsche in der Hand an uns vorbei, stieß einen Schrei aus und schenkte Dos ein Lächeln − als Willkommensgruß. Dann begann sie, in einem weiten Kreis um das Zeltlager, das wir gerade aufschlugen, herumzureiten. Kurz darauf preschte ein schwitzender, aber fröhlicher Mann her, der uns eilig begrüßte, während er gleichzeitig versuchte, die junge Frau einzuholen.
»Nina sollte freundlicher sein«, meinte Mikhail. »Es besteht doch keine Notwendigkeit, sich so schroff zu verhalten.«
»Genau deswegen, weil keine Notwendigkeit besteht, braucht sie nicht freundlich zu sein«, entgegnete Dos. »Sie braucht nur schön zu sein und ein gutes Pferd zu haben.«
»Aber sie macht das mit allen.«
»Ich habe sie vom Pferd geholt«, sagte Dos stolz.
Die Frau lachte, ritt noch schneller, und ihr Lachen erfüllte die Steppe mit Freude.
»Es geht um ein Verführungsspiel, das Kyz Kumai, was soviel heißt wie ›Das Mädchen vom Pferd holen‹. Wir haben es alle irgendwann in unserer Jugend gespielt.«
Der Mann, der das Mädchen verfolgte, holte auf, aber wir konnten erkennen, daß sein Pferd schwächer wurde.
»Eigentlich wollte ich ein andermal mehr über Tengri, die Kultur der Steppe, erzählen«, fuhr Dos fort. »Aber da Sie gerade diese Szene miterlebt haben, fange ich lieber gleich damit an, und mit etwas Wesentlichem zuerst: Hier in unserem Land hat die Frau in allen Dingen das Sagen. Sie hat immer den Vortritt. Selbst wenn sie beschließt, sich scheiden zu lassen, erhält sie die Hälfte der Mitgift. Sieht ein Mann eine Frau, die einen weißen Turban trägt, weiß er, daß sie Mutter ist, und er legt die Hand aufs Herz und senkt respektvoll den Kopf.«
»Und was hat das mit dem ›Das Mädchen vom Pferd holen‹ zu tun?«
»Dies ist nur ein Beispiel für die Stellung der Frau. Im Dorf am Fuß der Berge hat Nina, das begehrteste Mädchen im Umkreis, eine Gruppe junger Männer um sich geschart.
Sie spielen das Spiel Kyz Kumai, das unsere Vorfahren in Zeiten erfunden haben, als die Frauen der Steppe noch Amazonen genannt wurden und Kriegerinnen waren.
Damals hielt niemand um die Hand eines Mädchens an, sondern der oder die Verehrer und das Mädchen trafen sich an einem bestimmten Ort, zu Pferd. Das Mädchen ritt ein paarmal um die jungen Männer herum, lachte, provozierte sie und schlug sie mit der Peitsche. Bis der Kühnste beschloß, das Mädchen zu verfolgen. Wenn es ihr gelang, eine bestimmte Zeit lang zu entkommen, mußte der junge Mann die Erde bitten, ihn für immer zu bedecken − er würde von jetzt an als schlechter Reiter angesehen werden, die schlimmste Schmach für einen Krieger.