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»Ganz bestimmt.«

Eigentlich wollte ich sagen: Ich habe wahnsinnige Angst.

Ich wollte an alles denken, nur nicht daran, was in den nächsten Minuten geschehen würde. In dieser Stunde war ich der großzügigste Mensch auf Erden. Weil ich meinem Ziel nahe war, hatte ich Angst vor dem, was mich erwartete, und meine Reaktion darauf war, anderen helfen zu wollen, Gott zu zeigen, daß ich ein guter Mensch war, daß ich den Segen verdiente, den ich unter so großen Mühen zu erhalten versuchte.

Mikhail stieg vom Pferd und bat mich, ebenfalls abzusteigen.

»Ich werde zum Haus des Mannes mit der kranken Tochter gehen und mich um Ihr Pferd kümmern, solange Sie mit Esther reden.«

Er wies auf das kleine weiße Haus inmitten der Bäume.

»Da.«

Ich tat alles, um die Fassung zu bewahren.

»Webt sie dort ihre Teppiche?«

»Ja. Und sie gibt Französischunterricht. Übrigens sind das sehr komplizierte Teppiche, obwohl sie schlicht aussehen, sind sie wie die Steppe: Die Farben werden aus Pflanzen gewonnen, die zu einer ganz bestimmten Zeit geschnitten werden müssen, sonst verlieren sie ihre Eigenschaften.

Dann wird Schafwolle auf dem Boden verteilt, mit heißem Wasser übergössen und noch naß gesponnen. Wenn die Sonne sie getrocknet hat, wird mit dem Weben begonnen.

Am Ende werden die Teppiche von Kindern bestickt. Die Hände der Erwachsenen sind zu groß für die feinen Stickereien.«

Er machte eine Pause.

»Und nun kommen Sie mir nicht mit dummen Bemerkungen über Kinderarbeit: Das ist eine Tradition, die gewahrt werden muß.«

»Wie geht es ihr?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe seit etwa einem halben Jahr nicht mehr mit ihr gesprochen.«

»Mikhail, das ist mehr als ein Zeichen: die Teppiche.«

»Teppiche?«

»Erinnern Sie sich noch, daß Dos gestern meinen neuen Namen wissen wollte und ich die Geschichte eines Kriegers erzählt habe, der auf der Suche nach seiner Liebsten zu einer Insel zurückkehrt? Die Insel heißt Ithaka, die Frau Penelope. Was macht Penelope, seit Odysseus in den Krieg gezogen ist? Sie webt. Da Odysseus aber länger wegbleibt als erwartet, löst sie nachts das Gewebte wieder auf und beginnt am nächsten Morgen ihre Webarbeit aufs neue.

Penelope hat viele Freier, aber sie träumt von der Rückkehr dessen, den sie liebt. Als sie schließlich des Wartens müde geworden ist und ein letztes Mal mit dem Weben ihres Tuches beginnt, kehrt Odysseus heim.«

»Nun ist der Name dieses Ortes aber nicht Ithaka. Und die Liebste heißt auch nicht Penelope.«

Mikhail hatte die Geschichte nicht verstanden, es lohnte nicht, ihm zu erklären, daß ich sie nur als Beispiel anführte.

Ich überließ ihm mein Pferd, ging die hundert Meter, die mich von dem Menschen trennten, der einmal meine Frau gewesen war, sich in den Zahir verwandelt und jetzt wieder zu der Liebsten geworden war, von der alle Männer träumen, daß sie sie erwartet, wenn sie aus dem Krieg oder von der Arbeit zurückkehren.

Ich bin dreckig. Meine Kleider und mein Gesicht sind voller Sand, mein Körper verschwitzt, obwohl es ziemlich kalt ist.

Ich denke an mein Aussehen, das Oberflächlichste der Welt − als hätte ich den langen Weg zu meinem persönlichen Ithaka nur zurückgelegt, um neue Kleider vorzuführen. Auf diesen hundert Metern, die mir noch fehlen, muß ich mich anstrengen, an alles Wichtige denken, das geschehen ist, seit sie − oder ich − weg war.

Was soll ich sagen, wenn wir uns sehen? Wie oft habe ich mir das überlegt! Vielleicht »Ich habe lange auf diesen Augenblick gewartet« oder »Ich habe begriffen, daß ich mich nicht richtig verhalten habe«, »Ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß ich dich liebe« oder aber »Du bist noch schöner als je zuvor«.

Ich entscheide mich für »Hallo«. Als wäre sie nie gegangen. Als wäre nur ein Tag verstrichen und nicht zwei Jahre, neun Monate, elf Tage und elf Stunden.

Sie muß erkennen, daß ich mich geändert habe, während ich durch dieselben Orte gewandert bin wie sie vor mir, von denen ich bis dahin nichts gewußt oder für die ich mich nie interessiert hatte. Ich hatte den blutigen Stoffetzen in der Hand eines Obdachlosen gesehen, in den Händen junger Menschen, die in einem Restaurant in Paris auftraten, in den Händen eines Malers und meines Arztes und in denen eines jungen Mannes, der behauptete, er habe Visionen und höre Stimmen. Während ich ihren Spuren folgte, lernte ich die Frau kennen, die ich geheiratet hatte, und entdeckte den Sinn meines Lebens wieder, der sich so sehr verändert hatte und sich jetzt noch einmal veränderte.

Obwohl ich so lange verheiratet gewesen war, hatte ich meine Frau nie richtig gekannt. Ich hatte eine ›Liebesgeschichte‹ erfunden, wie man sie im Film und im Fernsehen, in Büchern und in Zeitschriften vorgeführt bekam, wo die

›Liebe‹ etwas ist, was wächst, eine bestimmte Größe erreicht und dann nur noch am Leben erhalten wird wie eine Pflanze, die man hin und wieder begießt und deren verwelkte Blätter man abzupft. ›Liebe‹ war auch ein Synonym für Zärtlichkeit, Sicherheit, Prestige, Bequemlichkeit, Erfolg. ›Liebe‹ übersetzte sich in Lächeln, in Worte wie »Ich liebe dich« oder »Ich finde es wunderbar, wenn du nach Hause kommst«.

Aber die Dinge waren verworrener als angenommen: Manchmal liebte ich Esther hingebungsvoll, wenn ich eine Straße überquerte, und wenn ich auf der anderen Seite angelangt war, fühlte ich mich bereits gefangen, traurig, weil ich mit jemandem verbunden war und zugleich wild auf Abenteuer. Und dann dachte ich: »Ich liebe sie nicht mehr.«

Und wenn die Liebe danach mit der gleichen Intensität zurückkehrte, hatte ich Zweifel und sagte mir: »Ich glaube, alles ist nur Gewohnheit.«

Esther hatte womöglich das gleiche gedacht und sich gesagt: »Was für ein Unsinn, wir sind glücklich, wir können den Rest des Lebens so verbringen.« Sie hatte ja dieselben Geschichten gelesen, dieselben Filme gesehen, dieselben Fernsehserien, in denen nie die Rede davon gewesen war, Liebe sei mehr als ein HappyEnd. Warum sollte man da sich selbst gegenüber nicht toleranter sein? Wenn Esther sich jeden Morgen erneut sagen würde, daß sie mit ihrem Leben zufrieden war, würde sie es dann am Ende nicht nur selbst glauben, sondern alles daransetzen, damit die Menschen um sie herum es auch glaubten?

Aber Esther dachte anders. Sie handelte anders. Sie versuchte, mir zu zeigen, was ich nicht sehen konnte − ich mußte sie verlieren, um zu begreifen, daß nichts süßer ist, als das, was man verliert, wiederzufinden. Und jetzt war ich hier, ging durch die Straße eines verschlafenen, kalten Dorfes, legte ihretwegen erneut einen Weg zurück. Der erste und wichtigste Faden des Netzes, das mich an sie band − »alle Liebesgeschichten sind gleich« −, war gerissen, als ich von einem Moped durch die Luft geschleudert worden war.

Im Krankenhaus hatte die Liebe zu mir gesprochen: »Ich bin alles und nichts. Ich bin wie der Wind und kann nicht hinein, wo Fenster und Türen geschlossen sind.«

Ich hatte der Liebe geantwortet: »Aber ich bin offen für dich.«

Und sie hatte zu mir gesagt: »Der Wind kann nicht in dein Haus, da Fenster und Türen verschlossen sind. Die Möbel werden sich mit Staub bedecken, die Feuchtigkeit wird am Ende die Bilder zerstören und die Wände fleckig machen. Du wirst weiteratmen, du wirst einen Teil von mir kennen − aber ich bin kein Teil, ich bin das Ganze, und das wirst du nie kennenlernen.«

Ich bemerkte, daß die Möbel verstaubten, die Bilder vor Feuchtigkeit verschimmelten, und mir blieb nichts anderes übrig, als Fenster und Türen zu öffnen. Als ich das getan hatte, fegte der Wind hindurch. Ich wollte meine Erinnerungen behalten, schützen, was ich unter solchen Mühen erreicht hatte, aber alle Dinge waren verschwunden und ich selbst leer wie die Steppe.