Ich begriff, warum Esther hierhergekommen war: um leer zu werden wie die Steppe.
Und weil ich leer war, kam der Wind herein und brachte Neues mit sich, Geräusche, die ich nie zuvor gehört hatte, Leute, mit denen ich nie zuvor geredet hatte. Ich war wieder von der Begeisterung von einst erfüllt, da ich mich von meiner eigenen Geschichte befreit, den ›Resignationspunkt‹
überschritten, in mir einen Mann entdeckt hatte, der imstande war, andere so zu segnen, wie die Nomaden und Schamanen der Steppe ihresgleichen segneten. Ich fand heraus, daß ich viel besser und zu viel mehr fähig war, als ich gedacht hatte, und daß das Alter nur den Rhythmus derer verlangsamt, die nie den Mut hatten, ihren eigenen Rhythmus zu finden.
Eines Tages hatte mich meine Frau auf eine lange Wallfahrt geschickt, damit ich meinen Traum fand. Viele Jahre später hatte mich dieselbe Frau wieder gezwungen aufzubrechen, diesmal, um den Mann zu finden, der sich auf dem Weg verloren hatte.
Jetzt denke ich über all das nach − nur nicht über das Wesentliche. Ich singe vor mich hin, frage mich, warum hier keine Autos geparkt sind, merke, daß einer meiner Schuhe kaputt ist und meine Armbanduhr noch die mitteleuropäische Zeit anzeigt.
Dies alles, weil die Frau, meine Frau, meine Führerin und die Liebe meines Lebens jetzt nur noch wenige Schritte entfernt ist; jedes Thema hilft, um vor der Realität zu fliehen, die ich so sehr gesucht habe, der zu stellen ich mich aber jetzt fürchte.
Ich setze mich auf die Stufen, die zum Haus hinaufführen, rauche eine Zigarette. Ich überlege, ob ich nach Frankreich zurückkehren soll. Ich bin an meinem Ziel angelangt, warum sollte ich noch weiter gehen?
Ich stehe auf, meine Beine zittern. Anstatt den Rückweg anzutreten, wische ich, so gut es geht, den Sand von Kleidern und Gesicht, lege die Hand auf den Türgriff und trete ein.
Weil ich weiß, daß ich die Frau, die ich liebe, vielleicht für immer verloren habe, fällt es mir schwer, die Gnade zu genießen, die mir Gott heute zuteil werden ließ. Mit der Gnade kann man nicht haushalten. Es gibt keine Bank, auf der ich sie horten kann, bis ich meinen inneren Frieden wiedergefunden habe. Wenn ich diese Gnade jetzt nicht nutze, ist sie unwiederbringlich verloren.
Gott weiß, daß wir Künstler sind. An einem Tag gibt Gott uns einen Meißel zum Bildhauern, an einem anderen Pinsel und Farbe zum Malen oder Papier und Stift zum Schreiben. Es wird mir niemals gelingen, den Meißel zum Malen oder den Pinsel zum Bildhauern zu benutzen. Daher muß ich, auch wenn es schwerfällt, die kleinen Gnaden des Heute annehmen, die mir jetzt wie ein Fluch vorkommen, weil ich leide. Aber es ist ein schöner Tag, die Sonne scheint und die Kinder auf der Straße singen. Nur so wird es mir gelingen, aus meinem Schmerz herauszufinden und mein Leben wiederaufzubauen.
Der Raum war lichtdurchflutet. Esther hob den Blick, als ich hereinkam, lächelte und fuhr fort, den Frauen und Kindern, die inmitten von bunten Stoffen auf dem Boden saßen, weiter aus ›Zerreißen hat seine Zeit, Zunähen hat seine Zeit‹ vorzulesen. Jedesmal, wenn Esther eine Pause machte, wiederholten sie den Abschnitt, ohne von ihrer Arbeit aufzuschauen.
Ich spürte einen Kloß im Hals, mußte mich zusammennehmen, um nicht sofort in Tränen auszubrechen, und von nun an fühlte ich nichts mehr. Ich schaute nur auf diese Szene, hörte, umgeben von Farben, von Licht, von Menschen, die ganz in ihr Tun versunken waren, meine Wort aus Esthers Mund.
Denn letztlich ist, wie ein persischer Weiser gesagt hat, die Liebe eine Krankheit, von der sich niemand befreien will. Wen sie erfaßt, der versucht nicht, gesund zu werden, und wer leidet, will nicht geheilt werden.
Esther schlug das Buch zu. Die Leute blickten auf und sahen mich.
»Ich werde einen Spaziergang mit diesem Freund machen, der gerade angekommen ist«, sagte sie zu der Gruppe.
»Für heute ist der Unterricht zu Ende.«
Alle begrüßten mich fröhlich. Esther kam zu mir, küßte mich auf die Wange, nahm meinen Arm, und wir gingen hinaus.
»Hallo«, sagte ich.
»Ich habe auf dich gewartet«, sagte sie.
Ich umarmte sie, legte meinen Kopf an ihre Schulter und fing an zu weinen. Sie strich mir übers Haar, und die Art, wie sie mich berührte, ließ mich begreifen, was ich mich zu begreifen weigerte, ließ mich akzeptieren, was ich zu akzeptieren mich weigerte.
»Ich habe auf vielerlei Art gewartet«, sagte sie, als sie sah, daß meine Tränen versiegten. »Als verzweifelte Frau, die weiß, daß ihr Mann ihre Schritte nie begriffen hat, nie hierherkommen wird, und die deshalb zurückfliegen mußte, um bei der nächsten Krise wieder abzureisen und zurückzukommen, abzureisen und zurückzukommen ...«
Der Wind hatte nachgelassen, die Bäume lauschten ihren Worten.
»Ich habe gewartet wie Penelope auf Odysseus. Die Leere der Steppe war voller Erinnerungen an dich, an die Augenblicke, die wir gemeinsam erlebt, an die Länder, die wir zusammen bereist haben, an unsere Freuden, unsere Streitereien. Dann schaute ich zurück auf die Spuren, die meine Schritte hinterlassen hatten, und sah dich nicht.
Ich habe viel gelitten. Mir war klar, daß ich einen Weg ohne Wiederkehr eingeschlagen hatte. Ich bin zu dem Nomaden gegangen, den ich einmal kennengelernt hatte, bat ihn, mich zu lehren, meine eigene Geschichte zu vergessen, mich der Liebe zu öffnen, die allerorts gegenwärtig ist. Ich begann, die TengriTradition bei ihm zu lernen. Eines Tages blickte ich zur Seite und sah diese Liebe in den Augen eines Malers namens Dos.«
Ich sagte nichts.
»Ich war sehr verletzt, glaubte, nie wieder lieben zu können. Er sagte nicht viel, brachte mir ein paar Brocken Russisch bei und erzählte mir, daß die Menschen in der Steppe, um den Himmel zu beschreiben, immer das Wort blau benutzen, selbst wenn er grau war − weil sie wissen, über den Wolken ist er weiterhin blau. Dos hat mich bei der Hand genommen und mir geholfen, diese Wolken zu durchbrechen. Er lehrte mich, mich selber zu lieben, bevor ich ihn liebte. Er zeigte mir, daß mein Herz in meinem und in Gottes Dienst stand und nicht in dem anderer Menschen.
Dos sagte auch, meine Vergangenheit werde mich immer begleiten, aber je mehr ich mich von den Fakten befreite und mich nur auf die Gefühle konzentrierte, desto besser würde ich verstehen, daß es in der Gegenwart immer Räume gibt, die so groß sind wie die Steppe und die es mit mehr Liebe und mehr Lebensfreude zu füllen gilt.
Schließlich erklärte er mir, daß das Leiden wächst, wenn wir von den anderen erwarten, daß sie uns so lieben, wie wir es uns vorstellen, und nicht so, wie die Liebe sich offenbaren muß − frei, ohne Kontrolle, indem sie uns mit ihrer Kraft leitet und verhindert, daß wir stehenbleiben.«
Ich hob den Kopf von ihrer Schulter und sah sie an.
»Und liebst du ihn?«
»Ich habe ihn geliebt.«
»Und liebst du ihn immer noch?«
»Glaubst du allen Ernstes, daß ich, wenn ich einen anderen Mann liebte, noch hier wäre, nachdem ich erfahren habe, daß du hierher unterwegs bist?«
»Ich denke nicht. Ich glaube, du hast den ganzen Morgen darauf gewartet, daß sich die Tür öffnet.«
»Und warum stellst du mir dann so dumme Fragen?«
Aus Unsicherheit, dachte ich.
»Ich bin schwanger.«
Für mich brach eine Welt zusammen. Aber nur eine Sekunde lang.
»Dos?«
»Nein. Jemand, der kam und ging.«
Ich lachte, obwohl mir bang ums Herz war.
»Nun, hier an diesem Ende der Welt gibt es ja auch nicht viel zu tun.«
»Es ist nicht das Ende der Welt«, antwortete Esther und lachte auch.
»Aber vielleicht wird es jetzt Zeit für dich, nach Paris zurückzukehren. Jemand von der Redaktion hat angerufen und sich erkundigt, wo du zu erreichen bist. Sie wollen von dir eine Reportage über eine NATOMission in Afghanistan.