Allerdings gibt es da immer zwei Probleme: Das erste ist, zu wissen, wann man etwas anfängt, das zweite, wann man damit aufhört.
Eine Woche später beginne ich mit der ersten, danach mit der zweiten, dann der dritten Überarbeitung. Madrid macht mich nicht mehr an, die Zeit ist gekommen, nach Hause zurückzukehren − ich spüre, daß ein Zyklus endet und ein anderer unbedingt begonnen werden muß. Ich verabschiede mich von der Stadt, wie ich mich in meinem Leben immer verabschiedet habe: mit dem Gedanken, daß ich es mir anders überlegen und eines Tages zurückkommen könnte.
Ich kehre mit Esther in mein Heimatland zurück, bin mir sicher, daß nun vielleicht der Zeitpunkt gekommen ist, mir ein anderes Tätigkeitsfeld zu suchen. Doch solange ich keins finde (und weil ich nicht muß, bemühe ich mich auch nicht sonderlich), überarbeite ich das Buch. Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend jemand sich für die Erfahrungen eines Mannes interessieren könnte, der auf einer romantischen, aber beschwerlichen Route Spanien durchquert.
Vier Monate später, als ich mich an die zehnte Überarbeitung machen will, stelle ich fest, daß sowohl das Manuskript als auch Esther verschwunden sind. Kurz bevor ich wahnsinnig werde, kommt Esther mit einem Einlieferungsschein der Post zurück − sie hat es an einen alten Freund von ihr geschickt, dem jetzt ein kleiner Verlag gehört.
Der Freund gibt es heraus. Keine Zeile in der Presse, aber ein paar Leute kaufen das Buch. Sie empfehlen es anderen weiter, die es auch kaufen und wieder weiterempfehlen.
Sechs Monate später ist die erste Auflage vergriffen. Ein Jahr später waren bereits drei Auflagen herausgekommen.
Ich beginne, mit Literatur Geld zu verdienen, etwas, das ich vorher nie für möglich gehalten hatte.
Ich weiß nicht, wie lange dieser Traum andauern wird, aber ich beschließe, jeden Augenblick so zu leben, als wäre er der letzte. Und ich merke, daß mir der Erfolg lange verschlossene Türen öffnet: Andere Verlage wollen meine nächste Arbeit publizieren.
Nun kann man nicht jedes Jahr den Jakobsweg gehen.
Also: was sollte ich jetzt schreiben? Wurde etwa das Drama von neuem beginnen, das darin bestand, mich an die Schreibmaschine zu setzen, aber letztlich alles andere zu machen, als Sätze und Kapitel niederzuschreiben?
Mir ist wichtig, meine Sicht der Welt mit anderen zu teilen, über meine Erfahrungen im Leben zu berichten. Ein paar Tage lang, viele Nächte lang versuche ich zu schreiben, merke, daß es nicht geht. Eines Abends lese ich zufällig (zufällig?) eine interessante Geschichte in den ›Märchen aus Tausendundeiner Nacht‹. Darin finde ich das Symbol für meinen eigenen Weg, etwas, das mir hilft, zu begreifen, wer ich bin und warum ich so lange gebraucht habe, um den Entschluß zu fassen, den ich unbewußt schon lange getroffen hatte. Dieses Märchen hat mich dazu inspiriert, über einen Schafhirten zu schreiben, der auf die Suche geht nach seinem Traum, einem am Fuß der Pyramiden in Ägypten verborgenen Schatz. Ich erzähle von der Liebe, die auf ihn wartet, so wie Esther auf mich gewartet hat, während ich im Leben im Kreis lief.
Ich bin nicht mehr der, der etwas träumt: Ich bin. Ich bin der Hirte, der die Wüste durchquert. Aber wo ist der Alchimist, der dem Hirten hilft weiterzuziehen? Dann ist der neue Roman plötzlich fertig, aber ich weiß nicht recht, was er eigentlich ist: Er scheint ein Märchen für Erwachsene zu sein − aber Erwachsene sind doch mehr an Kriegen, an Sex, an Geschichten über die Macht interessiert. Dennoch nimmt der Verleger das Buch an und veröffentlicht es, und wieder bringen es die Leser an die Spitze der Bestsellerlisten.
Drei Jahre später ist meine Ehe phantastisch, ich tue, was ich möchte, die erste Übersetzung meines Buches erscheint, dann die zweite, und der Erfolg trägt − langsam aber stetig − mein Werk in alle vier Himmelsrichtungen.
Ich beschließe, wegen der Cafes, der Schriftsteller, des kulturellen Lebens, nach Paris zu ziehen. Finde heraus, daß von alldem nichts mehr da ist: Die Cafes sind zu Touristenattraktionen verkommen, und die Menschen, die einst ihren Ruhm begründeten, sind nur noch als Fotos an den Wänden präsent. Den meisten Schriftstellern geht es mehr um Stil als um den Inhalt, sie wollen originell sein, aber schaffen es allenfalls, langweilig zu sein. Sie sind in ihrer Welt gefangen.
Und ich lerne einen interessanten französischen Ausdruck:
›den Fahrstuhl zurückschicken‹. Was soviel heißt wie: Ich rede gut über dein Buch, wenn du gut über meines redest; so schaffen wir ein neues Kulturleben, eine Kulturrevolution, eine neue philosophische Schule; wir leiden, weil uns keiner versteht, aber früher ist es den Genies nicht anders ergangen, es gehört zu einem großen Künstler, daß er von seiner Zeit nicht verstanden wird.
Diese Schriftsteller ›bekommen den Fahrstuhl zurückgeschickt‹ und haben anfangs einigen Erfolg. Das Publikum wagt nicht, offen zu kritisieren, was es nicht versteht. Doch bald merkt es, daß es betrogen wird, glaubt den Kritikern nicht mehr.
In Paris entsteht eine Parallelwelt: Neue Schriftsteller bemühen sich darum, daß ihre Worte und ihre Seelen verstanden werden. Sie benutzen einfache Worte, reicht doch das Internet und dessen einfache Sprache, um die Welt zu verändern. Ich schließe mich diesen Schriftstellern an, in Cafes, die keiner kennt, denn weder sie noch die Cafes sind berühmt. Ich entwickele meinen eigenen Stil und lerne von meinem Verleger, was ich über das System ›eine Hand wäscht die andere‹ lernen muß.
»Was ist die ›Gefälligkeitsbank‹?«
»Das wissen Sie doch. Jeder Mensch kennt sie.«
»Schon möglich, aber ich weiß noch immer nicht, was Sie damit meinen.«
»Sie wird im Buch eines amerikanischen Schriftstellers erwähnt. Es ist die mächtigste Bank der Welt. Sie ist allgegenwärtig.«
»Wo ich herkomme, gibt es kaum eine literarische Tradition. Und außerdem könnte ein Gefallen von mir niemandem helfen.«
»Das macht nichts. Ich gebe Ihnen ein Beispieclass="underline" Ich weiß, daß Sie jemand sind, der sich entwickeln und eines Tages viel Einfluß haben wird. Ich weiß es, weil ich einmal wie Sie war, ehrgeizig, unabhängig, anständig. Heute habe ich nicht mehr die Energie von damals, aber ich möchte Ihnen helfen, weil ich nicht stillstehen kann oder will. Ich will nicht von der Rente träumen, sondern von diesem aufregenden Kampf, der das Leben, die Macht, den Ruhm ausmacht.
Ich mache ein paar Einzahlungen auf Ihr Konto − Einzahlungen, die nicht aus Geld bestehen, sondern aus Kontakten. Ich stelle Ihnen den einen oder anderen Menschen vor, erleichtere bestimmte Verhandlungen, soweit dies zulässig ist. Sie wissen, daß Sie mir etwas schulden, obwohl ich nie etwas verlange.«
»Und eines Tages ...«
»Genau. Eines Tages bitte ich Sie um etwas, Sie könnten nein sagen, aber Sie wissen, daß Sie mir etwas schulden. Sie werden tun, worum ich Sie bitte, ich werde Ihnen weiterhelfen, die anderen werden erfahren, daß Sie ein loyaler Mensch sind, und ebenfalls auf Ihr Konto einzahlen − stets Kontakte, denn diese Welt besteht aus Kontakten und sonst nichts. Eines Tages wird man Sie um etwas bitten. Sie werden der Bitte entsprechen und denjenigen unterstützen, der Ihnen geholfen hat. Im Laufe der Zeit werden Sie über ein Netzwerk verfügen, das die ganze Welt umspannt, Sie werden diejenigen kennenlernen, die Sie kennenlernen müssen, und Ihr Einfluß wird stetig wachsen.«
»Oder aber ich weigere mich, zu tun, worum Sie mich gebeten haben.«
»Selbstverständlich steht Ihnen das frei. Eine Investition bei der Gefälligkeitsbank ist eine Risikoinvestition, wie es sie bei jeder anderen Bank auch gibt. Wenn Sie sich weigern, mir den Gefallen zu tun, um den ich Sie gebeten habe, weil Sie finden, daß ich Ihnen geholfen habe, weil Sie es verdienten, weil Sie der Größte sind, wir alle verpflichtet sind, Ihr Talent anzuerkennen − na, dann bedanke ich mich und bitte jemand anderen, der Ihnen schon einmal nützlich gewesen ist. Von dem Moment an wissen alle, ohne daß ich auch nur ein Wort verlieren muß, daß Sie kein Vertrauen verdienen.